Genau eine halbe Stunde vor Mitternacht wird offenkundig, wie prekär die Lage in München ist. Die Flüchtlinge kommen am Hauptbahnhof immer in Schüben an, mal sind es ein paar Dutzend, mal ein paar Hundert, das nimmt zu im Lauf der Nacht. Aber wann immer ein neuer Schwung gekommen ist an diesem Freitag, ist der vorherige schon durch gewesen, durch das provisorische Ankunftszentrum am Flügelbahnhof. Und nun?
Um 23.25 Uhr ist wieder ein Meridian-Zug auf Gleis 26 eingefahren, Hunderte steigen aus, doch die vorherigen stehen immer noch vor der alten Schalterhalle. Mehrere Hundert stauen sich nun, in einem schmalen Korridor zwischen Absperrgittern, es wird eng. "Don't push, don't push!", ruft immer wieder ein Helfer, der auf die Absperrung gestiegen ist. Nicht drücken, nicht dass Menschen erdrückt werden. Laut ruft er Polizisten um Hilfe, die Nervosität ist zu spüren. Kurz sieht es danach aus, als könnte die Lage eskalieren. Doch es passiert nichts.
Insgesamt 5800 Menschen zählt die Bundespolizei am Freitag, am Samstag sind es bis sechs Uhr morgens weitere 1600. Das Wochenende in München, von dem niemand weiß, wie es enden wird, beginnt damit ruhiger als erwartet. 10 000 neue Flüchtlinge hatten die Behörden ein paar Stunden zuvor für den Freitag prognostiziert, weitere 40 000 könnten es am Samstag und Sonntag werden. Das würde alle bisherigen Dimensionen sprengen. Doch lange ist es ruhig geblieben am Freitag, bis die Schübe in der Nacht eben immer dichter aufeinander folgten - und bis jede Kolonne der Flüchtlinge, die hinter den Absperrgittern zum Flügelbahnhof hinübergeleitet wird, immer größer wurde.
Afrikaner, Syrer, Afghanen. Junge Männer, viele Familien. Eltern, die schlafende Kinder, manchmal Babys auf den Armen tragen, nicht alle haben Schuhe an den Füßen. Einige versuchen, unter den Absperrgittern hindurch ins Freie zu kommen, wollen weg, wollen nicht warten und die kurze medizinische Untersuchung über sich ergehen lassen, um dann in eines der Notquartiere gebracht zu werden. Sie wollen ihr Glück auf eigene Faust suchen, doch Polizisten pfeifen sie zurück, wenn sie das sehen, manchmal in rüdem Ton.
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"Family, family"
Noch immer sind Münchner da, die Decken, Kuscheltiere, Süßes über die Gitter reichen - aber es sind wenige in dieser späten Nacht. Dafür ein Heer an freiwilligen Helfern, die Wasser und Essen reichen. Ein paar Kleider haben sie auch noch zu verteilen. Aus dem Pulk versuchen sie, die Familien herauszugreifen: "Family, family", diese Rufe hallen immer wieder durch die Bahnhofsvorhalle. Wer Kinder hat, darf an der Schlange vorbei, die jungen Männer müssen warten.
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Die Österreicher sagen nicht mehr, wann wie viele Asylsuchende nach Bayern kommen, andere Bundesländer stöhnen bereits. Die Lage am Hauptbahnhof wird zunehmend unberechenbar.
Und ein paar Meter weiter, in einer von der Bahn als "Raucherbereich" deklarierten Ecke, stehen ein paar Männer und tauschen sich bei Dosenbier lautstark darüber aus, dass Deutschland da gerade einen großen Fehler begehe, dass das alles das Land teuer zu stehen komme - und sie deuten auf den Pulk von Menschen, der da noch immer vor dem Flügelbahnhof wartet.
Gegen Mitternacht setzt sich dort ein gespenstischer Zug in Bewegung: 300 Flüchtlinge, von Helfern eskortiert, marschieren los. Vorne ein Polizeiauto, hinten zwei. Die Arnulfstraße, die am Hauptbahnhof entlang führt, wird gesperrt. Zu Fuß werden die Asylsuchenden in ein Notquartier gebracht, ein altes Autohaus ganz in der Nähe, das die Stadt umfunktioniert hat. Diese Lage ist ein Glücksfall, denn München gehen die Busse aus. 34 hat die Regierung von Oberbayern tagsüber eingesetzt, um Flüchtlinge in andere Landesteile und Bundesländer zu bringen, in der Nacht fahren nur noch wenige Busse des Münchner Verkehrsverbunds. Paradox: Am späten Abend fährt die Stadt sogar eines ihrer Notquartiere runter, wie das die Krisenstab-Experten nennen, sie belegt es also nicht weiter - es gibt keine Fahrzeuge mehr, die die Menschen dorthin bringen könnten.
Drehkreuz soll in Lüneburger Heide entstehen
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Doch selbst wenn es genügend Busse für diesen Shuttle-Service gäbe, die Flüchtlinge bleiben erst einmal in München. Und das ist es, was an diesem Freitag die Verantwortlichen im Rathaus und in der Regierung von Oberbayern teilweise richtig wütend macht: Die anderen Bundesländer und Kommunen drückten sich vor ihrer Verantwortung, ließen München allein. Die Hilferufe an sie und an den Bund sind in München am Freitag noch einmal deutlicher lauter geworden.
Eine Woche gebe er dem System noch, sagt ein ranghoher Behördenvertreter, der Einblick hat in die Lage, und deutet hinüber zum Hauptbahnhof. Eine Woche noch. Aber spätestens wenn das Oktoberfest beginne, werde alles zusammenbrechen - schon allein weil es dann keine Einsatzkräfte mehr gebe in der Stadt.
Das niedersächsische Innenministerium teilt am Freitagabend mit, in der Lüneburger Heide soll nun ein Drehkreuz für die Verteilung von Flüchtlingen in Norddeutschland entstehen. Asylbewerber sollten direkt per Bahn von Österreich nach Bad Fallingbostel gebracht werden, dort in Busse umsteigen und auf die norddeutschen Länder verteilt werden. Der Bund wolle in Fallingbostel in direkter Nähe zur Kaserne in Oerbke auf einem Gleisanschluss einen Verteilknoten für Flüchtlinge einrichten, heißt es vom Ministerium. Am Samstag wollen sich Vertreter von Bund und Land zur weiteren Planung direkt in Fallingbostel treffen.
Tränen fließen
In München dauert es bis zum Morgengrauen, bis alle den Medizincheck hinter sich haben; der letzte Zug fährt erst um ein Uhr ein, wieder mit Hunderten Flüchtlingen gefüllt. Der letzte Zug für diese Nacht? Zumindest der letzte nach Plan.
Ein letztes Mal in dieser Nacht also kommt eine Kolonne am Flügelbahnhof an. Am Absperrgitter stehen noch immer Araberinnen, die den neu Angekommenen dahinter erklären, was auf sie wartet. Die ständig mit ihren Handys Nummern anwählen, die ihnen wildfremde Menschen nennen oder auf Zetteln reichen, auf der Suche nach Freunden oder Angehörigen.
Und am Gitter steht auch ein Syrer und entdeckt seine Frau dahinter. Tränen fließen. Ob er sie nicht gleich mitnehmen könne, zu sich nach Hamburg, er sei mit dem Auto da, fragt er den Polizisten. Doch der bleibt hart, auch die Helfer beharren auf den Anweisungen: Nein, erst Medizincheck, dann in ein Notquartier, und morgen dann könne er seine Frau dort abholen. Sie haben hier am Hauptbahnhof so ziemlich alle Regularien außer Kraft gesetzt, sie nehmen keine Personalien mehr auf, keine Fingerabdrücke ab. Aber so viel Ordnung muss sein, auch am Beginn dieses besonderen Wochenendes. Aber morgen dann, dann wird wieder ein Platz frei, draußen in den Messehallen oder in sonst einer der Notunterkünfte. Sie werden ihn brauchen können, die Münchner.