Flüchtlinge:München ruft die Kanzlerin zu Hilfe

Flüchtlinge: Auch am Freitagabend kommen viele Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an.

Auch am Freitagabend kommen viele Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an.

(Foto: Catherina Hess)
  • Zehntausende Menschen sind von Ungarn aus Richtung Westen unterwegs, ein Großteil von ihnen wird über den Münchner Hauptbahnhof nach Deutschland einreisen.
  • München könne nicht so viele Menschen unterbringen, wie für das Wochenende erwartet würden - auch nicht für kurze Zeit, warnt OB Reiter.
  • Nun soll auch die Bundeswehr helfen.

Von Thomas Anlauf, Felicitas Kock, Ralf Scharnitzky und Kassian Stroh

Was am Freitagabend im Münchner Hauptbahnhof los ist

Ist es routinierte Ruhe oder die Ruhe vor dem Sturm? Der Meridian-Zug, der um 20 nach neun auf Gleis 26 einfährt, zeigt, wie eingespielt die Abläufe inzwischen sind. Zehn Minuten Hektik, Polizisten holen aus dem Pulk der Flüchtlinge die Familien heraus und geleiten sie als erste zum provisorischen Ankunftszentrum im Flügelbahnhof.

"Family, family"- Rufe hallen durch den Bahnhof, die jungen Männer sind später dran. 650 Asylsuchende sollten in dem Meridian sein, hat ein Polizist kurz zuvor gesagt. So viele sind es nicht, 300, vielleicht 400 - wer kann das schon sagen? Und nach zehn Minuten nur sind alle in der Halle verschwunden.

Welche Prognosen die Behörden abgeben

"Deutlich entspannter als gestern", sagt ein anderer Polizist zu seinem Kollegen, und das steht in deutlichem Kontrast zu dem, was die Behörden vier Stunden zuvor prognostiziert haben. Man rechne allein am Freitag bis Mitternacht mit insgesamt 10 000 Schutzsuchenden in München

Von dieser Zahl ist man gegen 22 Uhr offenbar weit entfernt; genaue Zahlen hat niemand. Kurz vor Mitternacht nimmt die Anspannung aller Beteiligten dann spürbar zu. Vor dem Ankunftszentrum stauen sich Hunderte Asylsuchende, die Stadt öffnet weitere Notquartiere. Lange Nächte, in denen plötzlich alles ganz anders kommt als gedacht, kennen die Polizisten und Helfer hier am Münchner Hauptbahnhof. Und alle Beteiligten sind auf weitere Tage im Großeinsatz vorbereitet.

Bis zum Ende des Wochenendes werde die Zahl der Geflüchteten bundesweit vermutlich auf bis zu 50 000 steigen, teilte die Regierung von Oberbayern am Freitagabend mit. Es gebe derzeit eine "große Unwägbarkeit", wie viele Menschen sich über Ungarn und Österreich auf den Weg nach Deutschland machen, sagte Regierungssprecherin Simone Hilgers.

Wie München sich vorbereitet

Da die österreichischen Bundesbahnen den Zugverkehr von und nach Ungarn eingestellt haben, um den Betrieb an den Wiener Bahnhöfen zu stabilisieren, sei der Einsatz der Behörden, der Polizei und der Helfer in Bayern nicht mehr so genau planbar, erklärte Hilgers. Viele Flüchtlinge würden nun versuchen, auf eigene Faust mit Autos oder Bussen nach Deutschland zu gelangen. In München stünden derzeit 5200 freie Plätze als "Notkapazität" zur Verfügung, sagte die Sprecherin. Doch wie lange diese ausreichen werden, ist kaum vorhersehbar.

Die Regierung von Oberbayern fordert seit Tagen, dass in Deutschland neben München weitere Verteilzentren eingerichtet werden. Je kritischer die Lage am Hauptbahnhof wird, desto lauter wird auch die Kritik: "Die Bundeskanzlerin ist dringend aufgefordert, mit den Länderchefs zu reden und uns nicht im Regen stehen zu lassen", sagte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter am Freitagabend, nachdem die neuen Prognosen gerade bekannt gegeben wurden. "Das kann keine ein, zwei Tage so weitergehen."

Wo die Bundeswehr zum Einsatz kommen soll

München könne nicht so viele Menschen unterbringen, wie jetzt für das Wochenende erwartet würden - auch nicht für kurze Zeit, warnte der Oberbürgermeister. Es sei unerklärlich und "nicht akzeptabel", dass es immer noch keine zweite Drehscheibe zur Verteilung der vielen Flüchtlinge in Deutschland gebe, sagte Reiter. Er habe mit Bahnchef Rüdiger Grube gesprochen, der zugesagt habe, so viele Züge wie nötig einzusetzen. "Wir hätten also die Züge, aber keine Zieldestinationen."

Regierung von Oberbayern kauft Betten in China auf

Unterdessen gehen in München die Feldbetten aus. Die Stadt ordert bereits Notschlafplätze in Frankreich, die Regierung von Oberbayern kauft Betten sogar in China auf.

Die Situation ist inzwischen so angespannt, dass nun die Bundeswehr Hilfe leisten soll. Am Freitagnachmittag sei bereits ein General bei der täglichen Lagebesprechung von Behörden und Polizei in München dabei gewesen, berichtete Regierungssprecherin Hilgers. Im Rahmen der Aktion "Helfende Hände" soll die Bundeswehr jedoch ausschließlich für Aufbauarbeiten von Notunterkünften eingesetzt werden und "Amtshilfe leisten".

Nach SZ-Informationen sollen die Bundeswehr-Soldaten zunächst in Dornach zum Einsatz kommen. Am Freitagabend ist im Gewerbegebiet des Vororts von München alles bereit für die ersten Flüchtlinge. Vor einem Bürogebäude am Einsteinring stehen Einsatzkräfte der Johanniter herum. Drin sitzen Freiwillige auf Bierbänken. Hinter ihnen türmen sich Wasserflaschen, Lebensmittel. An den Türen hängen Schilder, auf Englisch und Arabisch ist darauf zu lesen, wo es Essen gibt, wo es zu den Toiletten geht.

Etwa 1000 Feldbetten stehen hier bereit. In der Nacht soll die Bundeswehr im Nachbargebäude weitere 500 Betten aufbauen, am Samstagvormittag noch einmal 1000. Wann die ersten Flüchtlinge eintreffen werden, ist zunächst unklar. "Wir kriegen einen Anruf, dann haben wir zwei Stunden Zeit, um alles hochzufahren", sagt der Pressesprecher der Johanniter, Gerhard Bieber. Dann werde der Sanitätsbereich einsatzbereit gemacht, ausreichend Helfer eingesetzt.

Bahn schmiedet Pläne für die Zeit des Oktoberfests

Während die Lage am Hauptbahnhof ohnehin immer unkalkulierbarer wird, muss die Deutsche Bahn Pläne schmieden für die Zeit des Oktoberfests. Während der Wiesn sollen keine Sonderzüge mit Asylsuchenden den Hauptbahnhof anfahren. "Unser Ziel ist es, die Flüchtlinge in dieser Zeit an München vorbei zu leiten", sagte Bayerns Bahn-Chef Klaus-Dieter Josel. Er will die in Salzburg startenden Züge direkt in andere Städte dirigieren - nach Vorgaben der Politik: "Wir brauchen klare Ansagen, wohin die Züge fahren sollen."

Etwa sechs Stunden vor Abfahrt müsse die Deutsche Bahn den Zielort wissen, um einen Sonderzug in den komplexen bundesweiten Fahrplan eingliedern zu können. Die Züge, die jeweils 500 bis 600 Flüchtlingen Platz bieten, könnten vom Südring nicht zum Münchner Hauptbahnhof, sondern über Laim direkt Richtung Westen und Norden geführt werden. Auch für die Bahn und ihre Mitarbeiter bedeutet die Flüchtlingshilfe einen erheblichen logistischen Aufwand. Ohne Extraschichten und Überstunden wären diese zusätzlichen Aufgaben nicht zu stemmen, sagte Josel.

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