Serie "München erlesen" (33):Das kleine Glück und der Tod

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Die 1962 in Regensburg geborene Autorin Andrea Maria Schenkel in einem Café in der Lexington Avenue in New York. (Foto: Christina Horsten/picture alliance/dpa)

In ihrem Krimi "Kalteis" gräbt sich Andrea Maria Schenkel durch die Fakten der realen Morde der Bestie von Aubing.

Von Florian Welle, München

Man nannte ihn die Bestie von Aubing. Johann Eichhorn vergewaltigte mindestens 90 Frauen, fünf von ihnen tötete er. Sein erstes Mordopfer war 1931 Katharina Schätzl, sein letztes 1938 Maria Jörg. Anfang 1939 wurde der damals 32jährige verheiratete Rangierer, Vater von zwei Kindern, verhaftet und Ende des Jahres in Stadelheim hingerichtet. Johann Eichhorn gehörte der NSDAP an. Die zuständigen Behörden unternahmen daher alles, um über den monströsen Fall den Mantel des Schweigens zu legen. Das ist ihnen weitgehend gelungen. Einer breiten Öffentlichkeit wurde der Serienmörder und Sexualstraftäter mit dem Hang zu dunkelhaarigen, untersetzten Frauen erst bekannt, als Andrea Maria Schenkel seine Geschichte zum Inhalt ihres zweiten Kriminalromans "Kalteis" machte. Johann Eichhorn heißt hier Josef Kalteis, Katharina Schätzl Kathie Hertl.

Die Autorin hält sich einerseits an die Fakten. Am Ende des 2007 erschienenen Buches führt sie die Quellen auf, die sie benutzt hat, darunter die im Staatsarchiv verwahrten Vernehmungsprotokolle der Münchner Polizeidirektion. Andererseits nimmt sie sich literarische Freiheiten, um am Beispiel ihrer fiktiven Kathie Hertl von kleinen Leuten auf der Suche nach dem privaten Glück zu erzählen. "Unterkriegen lassen will sie sich nicht", spricht sich das junge Mädchen aus Wolnzach in der Hallertau trotzig selbst Mut zu. "Ist sie doch hier in München, in der Stadt, um ihr Glück zu machen. Und das Glück, das würde sie schon machen. Da ist sie sich sicher." Es ist eines fern der dörflichen Enge, eines vom süßen Leben in der großen Stadt, wie es ihr in den "Magazinen" vorgegaukelt wird.

Für ihr Debüt "Tannöd" erhielt Schenkel 2006 den Deutschen Krimipreis

Andrea Maria Schenkel feierte im Jahr 2006 mit ihrem Debüt "Tannöd" einen großen Erfolg. Darin hat sie den bis heute unaufgeklärten Mehrfachmord auf dem Einödhof Hinterkaifeck aus dem Jahr 1922 in die Oberpfalz der Nachkriegszeit verlegt. Die aus verschiedenen Blickwinkeln erzählte Geschichte von häuslicher Gewalt und Missbrauch erhielt den Deutschen Krimipreis. Für "Kalteis" bekam die 1962 in Regensburg geborene Schriftstellerin dann gleich noch einmal diese renommierte Auszeichnung. Wie der Vorgängerroman ändert auch dieser ständig die Erzählperspektive, wechseln die Vernehmung des Täters, die Aussagen der Zeugen zu allen fünf Morden sowie die fiktiven Passagen einander in rascher Folge ab. Dabei hält sich Schenkel nicht an die Chronologie der Ereignisse, springt vor und zurück. Erst am Ende ergeben alle Einzelteile wie bei einem Mosaik ein stimmiges Gesamtbild. "Kalteis" ist ein strikt durchkomponierter Krimi, in dem alle Personen ein gepflegtes Kunstbayerisch sprechen.

Die Taten von Josef Kalteis und ihre Aufklärung stehen nicht im Vordergrund. Gerade weil die Autorin es hier bei knappen Informationen belässt, tritt deren historisch verbürgte, abnorme Brutalität umso stärker hervor. Ein ums andere Mal fühlt man sich an Willy Puruckers Geschichte der Familie Grandauer erinnert. Auch in seiner Hörspielreihe und in der daraus hervorgegangenen Fernsehserie "Die Löwengrube" entstand vor dem Hintergrund der Kriminalfälle ein alltagsgeschichtliches Sittenbild Münchens über die Zeitläufte hinweg. Ähnlich funktioniert es in "Kalteis", nur mit dem Unterschied, dass Schenkel statt auf epische Breite auf kaltgeputzte Kürze setzt. Ihr genügen Andeutungen wie die Erwähnung von "Dachau" oder von München als "Hauptstadt der Bewegung", um beim Leser die historische Verbindung herzustellen. Sie zeigt uns eine Stadt der einfachen Menschen in beengten Wohnverhältnisse: Küchenbüfett, Kanapee, Waschschüssel. Sie führt uns zu Näherinnen, Wäscherinnen, Bedienungen, Dienstmägden. Zu Kupplern und deren viel zu leichtgläubigen Mädchen.

Geschichte von unten: Die Wohnungen befinden sich in der Lothringer Straße, in der Ickstattstraße, am Mariahilfplatz. Das höchste Vergnügen für all die Mädchen und Frauen ist gelegentlich ein Fahrradausflug ins Grüne, nach Lochhausen, Hohenschäftlarn, Starnberg. Viele Frauen sollten davon nie zurückkehren. Andrea Maria Schenkel erzählt von ihnen. Nicht nur als Opfer, sondern als Menschen mit Träumen, Wünschen, Sehnsüchten.

Andrea Maria Schenkel, Kalteis. Roman. btb Verlag , München 2009. 192 Seiten, 7 Euro.

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