Das erste Mal, dass Olaf Scholz öffentlich sagte, er wolle Kanzler werden, war genau vor einem Jahr. Der SPD-Politiker stand, eingerahmt von den beiden Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, auf einer Bühne im Berliner Veranstaltungsort Gasometer.
Walter-Borjans war mal der Meinung, dass die SPD in ihrem jämmerlichen Zustand eigentlich gar keinen Kanzlerkandidaten brauche. Esken war zwischenzeitlich der Meinung, dieser Scholz, der sei ja gar kein echter Sozialdemokrat: nicht links genug, zu kompromissbereit, einfach: zu großkoalitionär. Von Scholz, den die Partei 2019 nicht als Chef hatte haben wollen, darf man annehmen - denn er ist so klug, nicht jeden seiner Gedanken öffentlich auszubreiten -, dass er dachte, die Partei brauche eigentlich diese beiden Personen als Vorsitzende nicht. Echte Anführer sieht er bis heute nicht in ihnen, andernfalls hätte er den Wahlkampf kaum komplett an sich gezogen.
Noch im August 2020, als Scholz der Kanzlerkandidat der SPD wurde, präsentierte sich eine Partei, die vor allem eines erregte: Mitleid. Ein Jahr später sieht die Lage ganz anders aus. Jetzt liegt die SPD sogar schon in einer Umfrage vor der Union. Ein Kanzler Scholz ist möglich.
Gewiss, Scholz' Stärke beruht auf der Schwäche der anderen. Plötzlich kommt bei den Leuten an, was ihm so lange zum Nachteil gereichte: seine spröde Seriosität. Und die ist so nötig wie gefragt: In diesem Sommer verwandelten sich Bäche nach Starkregen in reißende Ströme. Der Einsatz in Afghanistan endete im Debakel. Das Land ist in der vierten Welle der Corona-Pandemie angekommen.
Unionskandidat Armin Laschet ist für viele zur politischen Lachfigur geworden, weil nicht mal seine Parteikollegen an seinen Erfolg glauben. So viele Krisen gleichzeitig lassen auch Zweifel aufkommen, ob die Kandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, die Richtige im Kanzleramt wäre. Sie hat keinerlei Regierungserfahrung. Es bleibt Scholz, bei dem man immerhin weiß, was man an ihm hat.
Es sind aber keineswegs nur die Umstände, die der SPD diesen Stimmungsaufschwung bescheren. Keiner der anderen Kandidaten hatte so viel Zeit, auf den Wahltag hinzuarbeiten, und war dazu noch so fleißig im Land unterwegs. Bei der SPD zahlt sich offenbar ein gutes Kampagnen-Management aus. Während Laschet schnell bei der Frage ins Stocken gerät, was seine Union vorhat, betet Scholz runter: Mindestlohn von zwölf Euro, 400 000 neue Wohnungen jedes Jahr, klimaneutrales Wirtschaften.
Bemerkenswert ist, wie es Scholz gelungen ist, seine einstigen Gegner hinter sich zu versammeln. Die Parteichefs Esken und Walter-Borjans begnügen sich mit der Statistenrolle. Kevin Kühnert, einst Krawall-Juso, hätte bis vor bald zwei Jahren noch am liebsten die SPD aus der ungeliebten großen Koalition herausgehebelt. Nachdem er Parteivize wurde, fügte er sich erst ins Establishment der Partei ein, dann ordnete auch er sich dem Kanzlerkandidaten unter. Im Herbst will er in den Bundestag. Scholz' Erfolg könnte für seine Karriere hilfreich sein.
Das gilt übrigens auch für die neue Juso-Chefin Jessica Rosenthal, die gar nicht erst die Rebellen-Rolle angenommen hat. Aber wenn schon die Jusos zum Karrieristen-Klub geworden sind, dann kann es um die SPD tatsächlich nicht so schlecht bestellt sein. Die Partei will wieder was; man könnte sagen: Sie lebt.