Sondierungen:Das Ziel ist der Weg

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Königsmacher und potenzielle Koalitionspartner (von links): Grünenchefs Annalena Baerbock und Robert Habeck, FDP-Vorsitzender Christian Lindner während der Sondierungsgespräche. (Foto: ANNEGRET HILSE/REUTERS)

Eine künftige Koalition hätte eine Riesenchance, dieses Land zu verändern. Dafür aber braucht sie eine gemeinsame Idee davon, wie es in Zukunft aussehen soll.

Kommentar von Michael Bauchmüller

Die Suche nach "Gemeinsamkeiten" ist in vollem Gange. SPD, Union, FDP und Grüne - sie alle loten in diesen Tagen "Schnittmengen" möglicher Koalitionen aus. Wer kann mit wem das meiste herausholen? Wo stimmt die Chemie? Wo sind die besten Kompromisse? Schnell finden sie sich wieder im Dickicht der Steuerpolitik, von Vorgaben hier und Bürokratieabbau dort, von Mindestlöhnen und Verteidigungsbudgets. Nur eins kommt bisher zu kurz: die gemeinsame Idee von den Spuren, die eine Koalition hinterlassen soll. Denn dafür müssten die Sondiererinnen und Sondierer vom Ende her denken: Wie soll das Deutschland künftig aussehen, das sie nun vier Jahre lang gestalten können?

Es darf ruhig auch Streit geben

Stichworte für so einen Angang gibt es genügend: Den gesellschaftlichen Zusammenhalt etwa, den auch eine Koalition selbst vorleben kann. Die freie Entfaltung des Einzelnen in einer Form, die nicht die freie Entfaltung künftiger Generationen verhindert. Die Stärkung Europas, nach innen wie nach außen. Ein zukunftsfähiges Deutschland, das seine Infrastrukturen auf Klimaneutralität und Digitalisierung ausrichtet, und im besten Fall beides verknüpft. Es gibt viele offene Baustellen in der Republik. Und damit genügend Projekte, die einem künftigen Regierungsbündnis eine Identität verleihen können. Vorausgesetzt, die Partner reden rechtzeitig darüber.

Sicher, das ist leicht gesagt bei Parteien, die aus ganz verschiedenen Perspektiven auf die Welt schauen, die unterschiedliche Interessen vertreten und stets befürchten müssten, über so eine kollektive Identität einer Koalition ihre eigene einzubüßen. Aber der Wille zur Gestaltung müsste die Verhandler doch einen - dafür sind sie schließlich Politikerinnen und Politiker geworden.

Wie es nicht geht, hat die scheidende Koalition gezeigt. Zusammengekommen mehr aus Zwang als aus Neigung, schmiedeten Union und SPD allerlei Kompromisse, die keinen der Partner zu schlecht aussehen lassen sollten. Aber es fehlte die Überschrift, das gemeinsame Ziel. Mit dem Ergebnis, dass die große Koalition die Krisen ihrer Regierungszeit zwar meisterte, das Land aber ansonsten mehr verwaltete als gestaltete. Sie agierte nicht, sie reagierte.

Das ist zu wenig für einen Staat von der Größe und dem Einfluss Deutschlands. Es ist viel zu wenig in einer Zeit wachsender grenzüberschreitender Krisen, von Klima- und Artenkrise über die Pandemie bis hin zu globalen Machtverschiebungen und einer - nicht zuletzt durch Covid - wieder bedenklich wachsenden Ungleichheit zwischen Nord und Süd. Eine Regierung, die keine Idee von Deutschland hat, kein gemeinsames Ziel, verspielt die Chance auf Gestaltung nicht nur daheim, sondern in der Welt.

Das heißt nicht, dass sie nicht auch über Wege zum Ziel streiten kann. Eine Koalition aber, die schon in den Zielen uneins ist, kann nichts und niemanden überzeugen. Und auch das spricht dafür, über das gemeinsame Projekt - wer immer es zusammen verfolgt - einen Moment länger nachzudenken. Die Veränderungen, vor denen das Land schon allein beim konsequenten Klimaschutz steht, kann nur vermitteln, wer selbst dahintersteht, und zwar entschlossen.

Solche Entschlossenheit, Klarheit im Ziel, "Gemeinsamkeit" im Wortsinn - das kann auch Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern verschaffen, Bereitschaft zum Wandel und damit neuen Gestaltungsspielraum. Denn es ist der Schlüssel zu einer guten Regierung.

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