"In aller Ruhe" mit Carolin Emcke:"Musik kommt in der Schule deutlich zu kurz" - Johanna Soller über die Zugänglichkeit von Kultur

Lesezeit: 2 Min.

Johanna Soller leitet seit der Spielzeit 2023/24 den Münchener Bachchor und das Bachorchester. (Foto: Simon Pauly/Münchener Bachchor/ Bearbeitung: SZ)

Die 35-jährige Dirigentin leitet als erste Frau den Münchener Bachchor. In dieser Folge von "In aller Ruhe" spricht sie über kulturelle Bildung, die Zeitlosigkeit von Bach und die Stille im Kulturbetrieb während der Pandemie.

Podcast von Carolin Emcke; Text von Léonardo Kahn

Wie zugänglich ist Hochkultur? Opern, Orchester und Chöre haben sich zwar in den vergangenen Jahren weiter geöffnet, die breite Gesellschaft erreichen sie dennoch nicht. Die Dirigentin Johanna Soller findet das "grausam". Schuld seien jedoch nicht nur die hohen Eintrittspreise, sondern auch die fehlende kulturelle Bildung: "Musik kommt in der Schule deutlich zu kurz."

Johanna Soller zählt zu den führenden deutschen Künstlerinnen ihrer Generation. Die 35-jährige Cembalistin und Organistin leitet seit Beginn der Saison 2023/24 als erste Frau den Münchener Bachchor und das Bachorchester. Die Ensembles wurden 1954 von Karl Richter gegründet und erlangten Weltrenommee. Soller ist erst seine vierte Nachfolgerin, was in 70 Jahren keine große Zahl sei, wie die Musikerin selbst anmerkt. "Karl Richter ist 1981 verstorben, ich bin 1989 geboren", sagt sie, "da liegt viel Zeit dazwischen."

Der Münchener Bachchor und das Bachorchester gehören zu den bekanntesten Ensembles in Deutschland. Am Karfreitag, 29. März, führen sie in der Isarphilharmonie die Matthäus-Passion auf. (Foto: Sabine Finger/Münchener Bachchor)

Dennoch empfindet die Dirigentin die weitreichende Historie des Chors nicht als Belastung, sondern als inspirierenden "Ausblick". Schon durch ihre Vorgänger hat sich die Linie des Ensembles seit dem Tod von Karl Richter weiterentwickelt, sagt die neue Leiterin: "Eigentlich fühle ich mich sehr frei in meiner Gestaltungsmöglichkeit."

Der Chor probt zweimal die Woche, "das ist viel", sagt die Leiterin. So bleibt neben dem Proben auch Zeit, um über die Kompositionen zu sprechen. Sollers früherer Klavierprofessor, Friedemann Berger, war eine große Inspiration für sie, er zählte zu ihren wichtigsten Lehrern. "Es vergingen Stunden völlig ohne Klavier, weil das Lenken von Aufmerksamkeit mehr im Vordergrund stand als eine ausgefeilte Klaviertechnik." Sie fügt hinzu: "Ein guter Lehrer macht sich selbst überflüssig." Es sei eine große Qualität des Lehrens, Unterschiede unter den Musikern zuzulassen. Insbesondere bei Bach sei das wichtig, um der Vielschichtigkeit seiner Kompositionen gerecht zu werden.

Warum ist Bach so zeitlos?

Auf die Frage, warum die Musik von Johann Sebastian Bach auch drei Jahrhunderte später noch Konzertsäle, Kirchen und Philharmonien füllt, findet Soller keine klare Antwort. Teilweise lässt sich das durch Bachs "große Ebenbürtigkeit von verschiedensten Polen" erklären, wie er zwischen Intellekt und Emotionalität abwiegt. Die Kompositionen seien einerseits unfassbar komplex und andererseits "irgendwie einfach", sagt die Dirigentin. Dadurch sei Bach für viele Hörer zugänglich, auch für die ohne Barock-Kenntnisse.

Gleichzeitig verbirgt Bachs Musik viele Details, etwa in "Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille" aus der Matthäus-Passion. Hier komponierte Bach 39 kurze Stakkato-Akkorde in der Oboe mit vielen Pausen und bezieht sich damit womöglich auf Psalm 39, wo es um das stille Schweigen geht. "Das ist dann eine Ebene, die sich nur in der Partitur auftut, niemand wird beim Hören die Akkorde mitzählen", sagt Soller. Und trotzdem schafft dieses Detail eine weitere Tiefe in der Komposition. "Das ist das unerschöpfliche Element bei Bach, wodurch man eigentlich mit der Interpretation nie fertig wird."

Die Corona-Pandemie hat die Kulturbranche in eine lange Pause gezwungen. Erst kam das Johanna Soller gelegen, denn die Zeit konnte sie zum Klavier-Üben nutzen. Nur die Ensemblearbeit war zu Hause nicht möglich, was sie nach und nach immer weiter frustrierte. Trotzdem wollte sie keine Online-Konzerte veranstalten: "Ich habe kaum etwas als verzweifelter empfunden als Chöre, wo sich jeder von zu Hause aus zugeschaltet hat." Das habe ihr gezeigt, wie schlecht ein wirkliches Zusammenkommen sich auf ein Livestream übertragen ließe.

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"Ich hatte viel Bekümmernis" ist Johanna Sollers liebste Bachkantate, auch wenn sich das häufig im Leben einer Musikerin ändert, wie sie selbst anmerkt. Sie findet es "beinahe ungeheuerlich", auf welche Reise Bach die Zuhörenden da schickt. "Innerhalb dieser grob 40 Minuten ist eigentlich fast ein ganzes Leben gezeichnet", sagt sie, "es ist unvorstellbar." Insbesondere der letzte Chor mit den Pauken und Trompeten, der an den Anfang der Sinfonie erinnert, beeindruckt die Musikerin. Dieses "Durchmachen" hat sie so in anderen Kantaten bisher nicht gefunden. Bach komponierte die Kirchenkantate während seiner Zeit in Weimar zwischen 1708 und 1717.

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