Europäische Union:Jetzt muss die EU-Kommission handeln

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Proeuropäische Demonstranten in Warschau. (Foto: Magdalena Chodownik/Getty Images)

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist klar: Renitente Mitgliedstaaten dürfen finanziell sanktioniert werden. Doch in Brüssel zögern die Verantwortlichen.

Kommentar von Thomas Kirchner

Der Europäische Gerichtshof hat gesprochen: Der Rechtsstaatsmechanismus, mit dem renitente EU-Staaten an die Kandare genommen werden sollen, ist rechtens. Nach dem erbitterten politischen Streit darüber, dem fast der Corona-Wiederaufbaufonds der EU zum Opfer gefallen wäre, ist das eine fast historische Aussage. Dem EuGH war das Urteil so wichtig, dass im beschleunigten Verfahren alle 27 Richter mitwirkten und Präsident Koen Lenaerts es verlas. Es steht zu vermuten, dass der Belgier selbst den zentralen Satz hineinschrieb, wonach die Staaten die Werte der Union nicht nur zu Beginn ihrer Mitgliedschaft berücksichtigen müssen, sondern dauerhaft.

Rechtlich haben die beiden klagenden Staaten Polen und Ungarn eine totale Niederlage erlitten. Ja, die EU kann ihren Haushalt dagegen schützen, dass in Mitgliedstaaten gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird. Denn gerade in der Vergabe von Geld konkretisiert sich der "tragende Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten". Und ja, der neue Mechanismus ist ein zulässiger Ersatz für das Artikel-7-Verfahren, das eigentlich dazu vorgesehen ist, in die Illiberalität abgleitende Staaten zu stoppen. Er hat laut Urteil andere Ziele, einen anderen Gegenstand. Das Artikel-7-Verfahren ist letztlich ein zahnloser Tiger, weil Sanktionen nur einstimmig verhängt werden können. Deshalb verwenden die EU-Staaten nun das Geld als Druckmittel.

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Bestehen wird die EU nur als wehrbare Gemeinschaft. Sie ist zumindest auf dem richtigen Weg

Politisch sendet dieses Urteil ein unmissverständliches Signal: Die EU lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen von Regierungen, die essenzielle gemeinsame Werte missachten; die Richter nach Gusto auswählen und disziplinieren oder freie Medien drangsalieren. Sie hat nun Waffen in der Hand, sie muss sich die Tricks und Täuschungsmanöver nicht mehr gefallen lassen, mit denen etwa Polen seit Jahren seine Absichten verschleiert und auf Zeit spielt. Bestehen können wird die EU nur als wehrbare Gemeinschaft. Nach außen fehlt dazu viel, nach innen ist sie auf dem richtigen Weg.

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Von Kassian Stroh

Am Ziel ist sie aber noch nicht. Das beweist die Reaktion der EU-Kommission. Sie will das Urteil erst "sorgfältig analysieren", bevor sie sich daranmacht, Richtlinien für die Umsetzung des neuen Mechanismus zu erarbeiten. Als hätten diese nicht längst vorbereitet werden können, schließlich war abzusehen, wie Luxemburg entscheiden würde. Im EU-Parlament, wo sich Kommissionschefin von der Leyen bei einer Debatte zum Thema am Mittwoch nicht blicken ließ, ist man zu Recht empört. Die Kommission mag dafür taktische Gründe haben, etwa die bevorstehende Wahl in Ungarn, aber es kann nicht sein, dass ihr Zögern in Rechtsstaatsfragen wie eine Methode erscheint.

Zumal sich die Behörde nicht nur in diesem Fall Zeit lässt, sondern auch bei einigen der vielen Vertragsverletzungsverfahren, die gegen Polen und Ungarn angestrengt worden sind. Diese Verfahren sind politisch heikel, weil nicht die Mitgliedstaaten darüber befinden, sondern die Justiz. Aber sie sind ein legitimes Mittel, um gezielt gegen einzelne Verstöße vorzugehen, effektiver vermutlich als mit dem neuen Mechanismus. Im Juli 2021 erklärte der EuGH die polnische "Disziplinarkammer", Herzstück der Justizreform, für unrechtmäßig. Im Oktober verhängte er, weil Polen nicht einlenkte, ein Zwangsgeld von täglich einer Million Euro. Warschau weigert sich zu zahlen. Längst wäre das nächste Vertragsverletzungsverfahren angezeigt, mit Androhung einer viel höheren Strafe. Warum zögert man in Brüssel?

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