Klassik:Tango trifft Walzer

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Daniel Barenboim, hier im Spiel mit der Staatskapelle Berlin. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Daniel Barenboim, immer für Überraschungen gut, dirigiert in Wien das Neujahrskonzert - vor Publikum und mit einem sehr traditionsbewussten Orchester.

Von Reinhard J. Brembeck

Der Pianist, Dirigent und Politikkommentator Daniel Barenboim wird im kommenden November 80 Jahre alt. Und er beginnt jetzt sein Geburtstagsjahr genauso rastlos, wie er die vergangenen 71 Jahre gelebt und musiziert hat. Auch wenn ihn zuletzt Rückenprobleme zu Konzertabsagen gezwungen haben, auch wenn er, das ist schon länger her, durch eine Augenoperation ausgebremst wurde. Aber Barenboim kann nicht ohne Bühne. Im nächsten Jahr wird der in Argentinien geborene und in Israel aufgewachsene Musiker in Berlin ein 30-Jahr-Jubiläum feiern, seit 1992 ist er der Musikchef der Staatsoper Unter den Linden und ihrer Staatskapelle. Auch dank Barenboim ist Berlin eine Musikhauptstadt, er hat dort die Staatskapelle zum zweiten Weltklassikensemble neben den Berliner Philharmonikern aufgebaut. Zudem steht Barenboims Weltoffenheit gegen die Verstrickung der Stadt in den Nationalsozialismus, der Musiker ist auch ein streitbarer Parteigänger für die Aussöhnung zwischen Juden und Palästinensern. Und, und, und.

Daniel Barenboim hat große Pläne für das neue Jahr, darunter ein Abend für die Uno-Flüchtlingshilfe

Das neue Jahr beginnt für Barenboim mit einem Konzertmarathon. Er dirigiert die Berliner Philharmoniker und geht dann mit seiner Staatskapelle und den vier Sinfonien von Robert Schumann auf Europatournee, im Februar steht "An Evening for Uno-Flüchtlingshilfe" an (heißt wirklich so). Noch sieht es danach aus, als könnten alle diese Konzerte vor Publikum stattfinden. Aber gesundheitspolitische Einschränkungen im Kulturbereich erfolgen derzeit oft für alle Beteiligten überraschend und kurzfristig.

Barenboims erster geplanter Auftritt im neuen Jahr indes ist das prestigeträchtigste Klassikevent der Welt, das von den Wiener Philharmonikern ausgerichtete Neujahrskonzert. Es ist so berühmt, weil die da präsentierte, gefühlt unendliche Folge von Wiener Walzern, vorzüglich komponiert von Vertretern der Strauß-Familie, aus dem legendären Wiener Musikvereinssaal per TV in mehr als 90 Länder übertragen wird. Kein anderes Klassikevent hat deshalb mehr Zuschauer, es sind so um die 50 Millionen. Diese Neujahrskonzerte gehen zurück auf ein Benefiz-Silvesterkonzert 1939 in der Hitler-Diktatur. Bis 1986 leiteten nur vier Dirigenten (Clemens Krauss, Josef Krips, Willi Boskovsky und Lorin Maazel) die Neujahrskonzerte. Seither wechseln international bekannte Dirigenten sich jährlich ab, manche von ihnen durften auch schon öfter: Nikolaus Harnoncourt, Herbert von Karajan, Riccardo Muti, Carlos Kleiber, Zubin Mehta, Mariss Jansons.

Es wird spannend. Denn die Wiener Philharmoniker haben ihre eigene Vorstellungen vom Neujahrstanz

Daniel Barenboim dirigiert jetzt nach 2009 und 2014 sein drittes Neujahrskonzert. Doch Barenboim stammt nicht aus dem Wiener-Walzer-Wien, sondern aus der Tango-Metropole Buenos Aires. Bis auf den Umstand, dass Tango wie Walzer ihr Metrum (Dreiviertel- und Zweivierteltakt) raffiniert eigenwillig handhaben, verbindet diese Tänze nichts. Das macht Tango wie Walzer zu Tänzen auf dem Vulkan - für Musiker und Tänzer, die zutiefst eintauchen in die jeweiligen Musikkulturen. Man höre nur den immer neugierigen, lettisch-deutschen Geiger Gidon Kremer mit seinen Annäherungen an den argentinischen Komponisten Astor Piazzolla. Da entsteht ein faszinierendes Kunstprodukt, das aber genau jene 11 800 Kilometer vom Tango entfernt ist, die Wien von Buenos Aires trennt.

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Beim Wiener Neujahrswalzer ist das sehr viel einfacher. Denn die Wiener Philharmoniker, die sich durchaus für eines der weltbesten Orchester halten dürfen, können zwar fast alles, nur eins nicht: den Wiener Walzer anders spielen als zu Zeiten von Johann Strauss, also mit der aus Sinnlichkeit, Heurigen, Bosheit und Schmäh angerührten Unschärfe zwischen der zweiten und dritten Viertelnote jeden Takts, die mit fanatisch genauem Understatement gespielt werden muss. Das ist es, was die Wiener Philharmoniker nur so und nicht anders können. Weshalb, Entschuldigung an Daniel Barenboim, es dann auch erst einmal ganz egal ist, von wem sie dabei dirigiert werden.

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