Mit der "Stimmung des Augenblicks" muss sich wahrlich keiner aufhalten, der seit 99 Jahren auf der Erde lebt - die allermeiste Zeit davon in höchst wachem Geisteszustand an den Steuerrädern der Geopolitik. Henry Kissinger kann es sich erlauben, vor kurzlebiger Gefühligkeit zu warnen - als Akademiker und Politiker hielt er sich immer schon am liebsten am Scheitelpunkt des großen historischen Bogens auf. Nun bezeugt auch sein sagenhaftes Lebensalter, dass dieser Mann den sehr langen Atem kennt.
Gerade ist Kissinger in Davos aufgetreten, wo man ihm eigentlich gerne zu Füßen liegt. Aber was der Altvater der US-Diplomatie zu sagen hatte, wird nicht mal dem vergleichsweise jungen Hüpfer Joe Biden schmecken, geschweige denn den Wirtschaftslenkern in den Schweizer Bergen, die plötzlich die politische Moral entdeckt haben. Kissinger riet also der Ukraine, sie müsse Territorium an Russland abtreten, damit ein Friedensschluss möglich werde. Überhaupt warne er vor einer demütigenden Niederlage Russlands, die Europas Stabilität auf lange Zeit gefährden würde.
Das alles hat natürlich die ukrainische Politik und das Netz gebührend empört und Henry Kissinger pünktlich zum 99. Geburtstag an diesem Freitag eine Menge Aufmerksamkeit beschert - was allerdings nicht sein vordringliches Ziel gewesen sein dürfte. Große Auftritte und Ordnungsrufe gehören für Kissinger nach wie vor zum Wochenprogramm. Immer wieder taucht er zu Veranstaltungen und Preisverleihungen in Europa oder Asien auf. In Washington wird die Suite im "Hay-Adams"-Hotel noch immer regelmäßig für ihn geräumt, man kann ihn dort im Fahrstuhl treffen auf dem Weg zu Terminen im Weißen Haus. Dass die Zeit nicht stehen geblieben ist in der US-Hauptstadt, erkennt man lediglich an der Gehhilfe, die Kissinger seit einigen Jahren benutzt.
Wenn es ein Gen für Zentenare gibt - Kissinger hat es von seiner Mutter Paula (die 97 wurde) und seinem Vater Louis (95) geerbt. Heinz Alfred Kissinger wurde 1923 in Fürth geboren, Vater Louis war Lehrer am Lyzeum dortselbst. Die Familie floh 1938 vor den Nazis, viele Verwandte blieben zurück und wurden in den Konzentrationslagern ermordet. Die traumatischen Kindheitserfahrungen haben das Fundament gelegt für eine politische und akademische Karriere, die ihren Höhepunkt in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts fand, als Kissinger unter Präsident Richard Nixon in nur wenigen Jahren die Grundzüge der US-Außenpolitik neu ausrichtete. Als Sicherheitsberater und Außenminister war es seine Vorstellung von Ordnung, die den blutigen Abzug aus Vietnam, die Öffnung hin zu China, Amerikas Vormacht im Nahen Osten und natürlich den Umgang mit der Sowjetunion im Kalten Krieg bestimmte.
Kissinger spricht ein kaltes Urteil über Russland
Tod und Verderben war genauso Bestandteil seines außenpolitischen Kalküls wie der spielerische Umgang mit Macht. Es ist dieses tiefsitzende Verständnis von Balance und Ausgleich, das den Studenten der europäischen Staatenordnung und Metternich-Bewunderer Kissinger heute ein kaltes Urteil über Russland sprechen lässt: Ja, diese Invasion habe er nicht für möglich gehalten, sagte er unlängst. Um dann eben den Ratschlag zu geben, Europas Stabilität nicht wegen ein paar Quadratkilometern im Donbass aufs Spiel zu setzen. Wer hinter diesen Sätzen einen Putin-Apologeten wittert oder einen Geistesbruder jener Denkschule, die dem Westen die Schuld am Krieg gibt, der springt zu kurz. Kissinger weiß lediglich, dass nichts schwerer zu halten ist als das Gleichgewicht zwischen Staaten.
Kissingers umfassendes Spätalterswerk wird übrigens kurz nach dem Geburtstag um ein Erinnerungsbuch über die größten Staatsmänner seiner Lebensspanne bereichert. Da ist allerhand zusammengekommen, und auf beharrliche Bitte des Verlags hat Kissinger auch Staatsfrauen in seine Adelungsliste aufgenommen. Das hundertste Lebensjahr kann damit beginnen.