Nach der Bundestagswahl glaubte die FDP, in einer neuen Normalität zu sein. In der würden die beiden Volksparteien nicht mehr die herausgehobene Rolle spielen, die das politische System der Bundesrepublik geprägt hat. Die kleinen Partner, also FDP und Grüne, würden zusammengenommen dem großen Partner in nichts nachstehen oder ihn sogar überflügeln. Die Beteiligung an der Bundesregierung, so argumentierten Parteistrategen, werde den Liberalen genug öffentliche Aufmerksamkeit bescheren. Und Wählerinnen wie Wähler würden solide Regierungsarbeit honorieren - in der Finanzpolitik, vor allem aber bei der gesellschaftspolitischen Modernisierung des Landes.
So lautete der Plan, von dem sich Parteichef Christian Lindner auch bei der Wahl der Ressorts in Berlin leiten ließ. Drei Landtagswahlen später aber ist die FDP krachend in einer Realität aufgeschlagen, in der sie wieder gefährlich nahe an der Fünf-Prozent-Hürde liegt (Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen) oder nicht mal ins Parlament einzieht (Saarland). Dafür sind zweifellos auch landespolitische Faktoren verantwortlich. Und Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine mit allen Folgen konnte niemand einkalkulieren. Von den kleinen Partnern aber sind die Grünen groß - und die FDP ist ins Schleudern geraten.
Parteichef Lindner bleibt nur eine riskante Strategie
Lindner beschwört die starken Überzeugungen der Freien Demokraten - und ihre starken Nerven. Er will Kurs halten. Er deutet auf die bundesweiten Umfragen. Das ist eine riskante Strategie, aber viel anderes bleibt ihm nicht übrig. Opposition in der Regierung kann für die Liberalen nicht funktionieren, wenn sie als seriöse Kraft wahrgenommen werden wollen. Bei der Corona-Politik haben sie die eigene Anhängerschaft gespalten. Die Ressortverteilung lässt sich nicht ändern; auch wegen der Weltlage spielt sie für die Grünen, mit dem Wirtschaftsminister Habeck und der Außenministerin Baerbock.
Die Sichtbarkeit der Partei und die Zugkraft ihres Führungspersonals aber sind zum Problem geworden: Lindner füllt Säle und Marktplätze im Wahlkampf. Aber deswegen wählen die Leute noch nicht FDP. Neben ihm ragt nur Wolfgang Kubicki heraus, und vielleicht die resolute Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die anderen Mitglieder des Bundeskabinetts machen ihre Jobs solide, aber weder sie noch der neue Generalsekretär oder führende Landespolitiker haben gängige Namen.
Ihre Kernwähler erreichen die Liberalen nur noch mit viel Mühe
Das schlägt sich nieder in mangelnder Mobilisierung. Die FDP erreicht derzeit mit Mühe und Not ihre Kernwähler, während die Grünen weit in andere Milieus ausgreifen. Zwar finden die Liberalen Zuspruch bei jungen Wählern, umso verheerender aber sind ihre Ergebnisse in der wahlentscheidenden Gruppe der Menschen über 60. Die interne Analyse lautet: Die Rentner fühlten sich übergangen bei den Entlastungspaketen der Ampel, das sei schlecht kommuniziert worden. Warum das aber die FDP so viel mehr Prozente kosten soll als die Sozialdemokraten, erschließt sich nicht.
Die Liberalen laufen Gefahr, auch mit ihren Themen ins Hintertreffen zu geraten. Wenn der Krieg in der Ukraine andauert, sich die Inflation verschärft, gar die Wirtschaft in eine Krise gerät, bestimmen Existenzsorgen die Agenda. Die Menschen werden dann nicht viel geben auf ein liberalisiertes Einwanderungs- oder Familienrecht, die überfällige Digitalisierung des Landes oder gar die Legalisierung von Cannabis. Nicht einmal solide Haushaltspolitik garantiert dann noch Wahlerfolge.