Coronavirus in England:Wie tödlich ist tödlich genug?

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Boris Johnson auf der Pressekonferenz, auf der er die Corona-Maßnahmen in England für den 19. Juli für beendet erklärt. (Foto: AFP)

Es folgt keiner Logik, alle Corona-Beschränkungen an einem einzigen Tag aufzuheben. Johnsons Regierung hat das für England dennoch so entschieden - und bringt andere Länder, aber auch die Briten selbst, in eine schwierige Lage.

Kommentar von Michael Neudecker, London

Es gehe jetzt wieder nur um "Headlines" und "Soundbites", so formulierte es Keir Starmer, Schlagzeilen und Schlagworte, so könne man doch kein Land regieren. Der Labour-Politiker ist Chef der größten Oppositionspartei im Vereinigten Königreich, es ist seine Aufgabe, die Regierung zu kritisieren. Das grundlegende Problem fasste er damit aber treffend zusammen.

Schlagzeilen und Schlagworte, das sind wesentliche Instrumente in Boris Johnsons Politik, bislang gab es für ihn keinen Anlass, daran etwas zu ändern. Beim Wahlvolk kommt es an, wenn Johnson Sätze sagt wie neulich, in einer der stets kontroversen Mittwochsdiskussionen im Parlament, an Starmer gewandt: "They jabber, we jab. They dither, we deliver. They vacillate, we vaccinate", übersetzt: "Sie quasseln, wir spritzen. Sie zittern, wir liefern. Sie schwanken, wir impfen". Auch den sogenannten "Freedom Day", den Tag der Freiheit, an dem die letzte Phase seiner Corona-Politik in Kraft treten soll, hat er immer wieder beschworen, als wolle er den Briten einen Werbeslogan ohrwurmhaft in ihre Köpfe drücken.

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Es folgt jedoch keiner Logik, den Umgang mit dem Virus an bestimmten Tagen festzumachen. Johnson selbst hat das sogar gesagt: Es gehe in dieser Krise um Daten im statistischen Sinne, nicht um Daten im kalendarischen. Das Tag-der-Freiheit-Schlagwort hat er trotzdem so oft benutzt, dass der Druck stieg, in der Öffentlichkeit und in der eigenen Partei. Johnson ist letztlich zum Knecht seiner eigenen Rhetorik geworden.

Johnson wird von den eigenen Abgeordneten bedrängt

Das Datum 19. Juli aber ist kein zufällig gewähltes. An dem Tag beginnen in England die Sommerferien. Man gehe davon aus, dass viele Menschen in den Urlaub fahren, sagte Johnson, es sei also weniger riskant, gerade dann das Land wieder zu öffnen. Was das für die anderen Länder bedeutet, in denen die Briten sich dann sonnen und erholen wollen? Egal. Jeder ist sich selbst der Nächste, das ist der Grundsatz, den Johnsons Regierung außenpolitisch verfolgt.

Das Vorgehen, alle Einschränkungen an einem einzigen Tag aufzuheben, begründete Johnson neben dem für England günstigen Datum noch mit dem Verweis auf die Statistiken. Trotz enormer Fallzahlen, die sich derzeit alle neun Tage verdoppeln, steigen die Zahlen der ernsthaft Erkrankten und Toten nur in geringem Ausmaß. Sie steigen aber dennoch, vermutlich umso mehr, wenn noch nicht einmal das Tragen von Masken in der bald wieder vollen und engen U-Bahn verpflichtend sein wird. Von möglichen Langzeit-Auswirkungen und den Konsequenzen für die ungeimpften Kinder ganz zu schweigen.

Das Coronavirus sei derzeit weniger tödlich als die Grippe, das war zuletzt immer wieder aus den Reihen der Tory-Abgeordneten zu hören, die Johnson seit Monaten innenpolitisch bedrängen. Das radikale Aufheben aller Beschränkungen auf einmal zwingt das Land nun in eine Lage, in der es in den kommenden Wochen und Monaten unter den Augen der Weltöffentlichkeit eine beklemmende Frage beantworten muss. Eine, die man in einer humanen Welt niemals stellen darf: Wie tödlich ist tödlich genug?

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