Corona-Maßnahmen:Eine Fehleranalyse ist jetzt notwendig

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Mehrere Tausend Menschen demonstrieren in Stuttgart gegen die Beschränkungen aufgrund des Coronavirus. (Foto: dpa)

Sie würde das Vertrauen all derer in die Politik stärken, die die Beschränkungen der vergangenen Wochen mitgetragen haben, wenn auch widerwillig.

Kommentar von Jan Heidtmann, Berlin

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie - wobei die Sorge nun weniger einer zweiten Welle gilt. Sie gilt vielmehr dem Ausbruch an Lügen und Halbwahrheiten, die sich derzeit auf der Straße und im Netz rasant ausbreiten. Nicht nur der Virologe Christian Drosten warnt vor einer Infektion mit diesem Unsinn, auch der UN-Generalsekretär und die Innenpolitiker hierzulande. "Wir müssen mit Fakten, Transparenz und einer Verteidigung der Wissenschaft dagegenhalten", sagt Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Doch das allein wird nicht genügen.

Die vergangenen Wochen waren ein bisher einmaliges Experiment. Die Versuchsanordnung haben versierte Virologen und die Regierenden vorgegeben. Wie sie das gemacht haben, das war - anders als oft behauptet - nicht alternativlos. Schweden zum Beispiel hat seinen Bürgern weniger Beschränkungen auferlegt. Aber angesichts der Bilder aus Italien oder der Lage in Österreich hatte die Politik nur einen sehr geringen Spielraum. Den haben Bundesregierung und Ministerpräsidenten weitgehend umsichtig genutzt. Doch zu einem Experiment gehört auch die kühle Fehleranalyse. Sie ist jetzt notwendig.

Es sind ja nicht nur die Verschwörungstheoretiker, die ihre Zweifel an den getroffenen Maßnahmen formulieren. Immer mehr Bürger klagen gegen die Auflagen. Bundesweit seien inzwischen rund tausend Eilanträge im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bei den Gerichten eingegangen, heißt es beim Deutschen Richterbund. Und Widersprüchlichkeiten gibt es ja zuhauf: Zum Beispiel, dass in der Bundesliga der Rat der Virologen offenbar kaum zählt, bei der Betreuung von Kindern aber sehr wohl.

Oder dass man am Osterwochenende in einigen Bundesländern zwar nicht zum Gottesdienst durfte, dafür aber in den Baumarkt. Dazu kommen die Absurditäten, die die Menschen tagtäglich erleben: Wenn sie die Maske in einem Bus tragen müssen, in dem sonst nur noch die Fahrerin sitzt. Oder angesichts der einfachen Frage, warum Bargeldmünzen, die durch Hunderte Hände gehen, weiter kursieren.

Die Politik hat von ihren Bürgern einen enormen Vertrauensvorschuss bekommen

Die vergangenen zwei Monate waren ein Ausnahmezustand - das, was Angela Merkel in Bezug auf das Internet einmal als Neuland bezeichnet hat. Die Politik hat von ihren Bürgern einen enormen Vertrauensvorschuss bekommen, um die Pandemie zu bewältigen. Wochenlang konnte die Exekutive weitgehend ungestört agieren, die üblichen Überprüfungen im politischen System fanden allenfalls eingeschränkt statt. Das galt von der Kontrolle durch die Parlamente bis zur Freiheit, sich auf der Straße zum Protest zu versammeln. Das Infektionsschutzgesetz wirkte dabei wie ein Grundgesetz auf Zeit. Und die Geltungsdauer ist bis heute unbestimmt.

Dass das Ausmaß der Corona-Pandemie bislang kleiner ist als befürchtet, sei eine gemeinsame Leistung der Menschen Deutschland - dieses Lob gehört inzwischen zum Rederepertoire der Regierenden. Meinen sie es ernst mit der Gemeinsamkeit, gehört dazu auch, ihre eigene Rolle ehrlich zu bewerten.

Der richtige Ort für solch eine Untersuchung wären die Ausschüsse im Bundestag und in den Landesparlamenten. Ein Verschwörungstheoretiker würde dadurch kaum bekehrt werden. Aber es würde das Vertrauen all derer in die Politik stärken, die die Beschränkungen der vergangenen Wochen mitgetragen haben, wenn auch widerwillig.

© SZ vom 11.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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