Großbritannien:Johnson spielt sich als größter Helfer der Ukraine auf

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Der Premier fährt als erster G-7-Regierungschef nach Kiew. Was er damit überspielt: seinen beschämenden Umgang mit Kriegsflüchtlingen.

Kommentar von Michael Neudecker

Die ukrainische Botschaft in London veröffentlichte auf Twitter am Samstagnachmittag ein Foto mit der Überschrift "surprise", Überraschung. Auf dem Foto sind Boris Johnson und Wolodimir Selenskij zu sehen, wie sie in Kiew an einem Tisch sitzen. Der britische Premierminister besuchte tatsächlich völlig überraschend als erster Regierungschef der G7 die Ukraine, seit der Krieg begann. Am Sonntag wurde Johnson in London zurückerwartet, während in sozialen Medien von ukrainischen Journalisten Videos veröffentlicht wurden, wie Johnson mit Präsident Selenskij einen Rundgang durch Kiew macht, begleitet von schwer bewaffneten Soldaten. Er wird von ukrainischen Bürgern freundlich begrüßt, eine Frau schenkt ihm eine Art Vase, ein Mann ruft auf Ukrainisch "Danke, Boris", Johnson schüttelt ihm die Hand.

Es sind warmherzige Bilder, die da um die Welt gehen. Die Version, das Vereinigte Königreich sei die führende Nation in der Ukraine-Hilfe, wurde dazu am Sonntag in nahezu jedem britischen Medium transportiert. So geht das schon seit Wochen: Kaum ein Statement aus Downing Street kommt ohne den Hinweis aus, dass kein anderes Land mehr tue als Großbritannien - als sei die Relevanz der eigenen Rolle beim Helfen genauso wichtig wie die Hilfe selbst.

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Deutschland nimmt siebenmal so viele Menschen auf

Während Johnson durch Kiew ging und Geschenke entgegennahm, trat in der heimischen BBC der Chef des britischen Roten Kreuzes auf und beschwerte sich zu Recht über den beschämenden Umgang der britischen Regierung mit den Flüchtlingen. Das Vereinigte Königreich hat als einziges europäisches Land eine Visumpflicht für Geflüchtete aus der Ukraine. Es ist erstaunlich, dass Johnsons Minister den Zynismus ihrer Worte nicht hören, wenn sie - wie auch an diesem Wochenende wieder - betonen, man habe den Prozess doch eigens für diese Flüchtlinge bereits vereinfacht: Es sei nicht mehr nötig, persönlich zu einem Termin zu erscheinen. Die Ukrainer könnten die Antragsformulare für das Visum stattdessen online ausfüllen.

Einfach die Grenzen zu öffnen für Menschen aus anderen Ländern, das widerspräche der Politik von Johnsons Brexit-Regierung. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Bis Ende dieser Woche wurden im Königreich rund 41 000 Visumanträge aus der Ukraine genehmigt. Allein Deutschland hat offiziell bereits mehr als 300 000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, inoffiziell sind es weitaus mehr.

Boris Johnsons Qualität - das Reden mit Menschen, das Verkaufen von Botschaften - ist wichtig in einer Krise wie dieser. Und für die Ukraine ist es ein hilfreiches und bedeutsames Signal, wenn Johnson persönlich nach Kiew reist. Die Videos und Schlagzeilen aber dürfen die ganze Wahrheit nicht verdecken.

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