Großbritannien:Trickser ohne Trick

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Nach dem Vorbild von Tony Blair: Labour-Chef Keir Starmer. (Foto: Justin Tallis/AFP)

Noch vor Kurzem sah es so aus, als sei Boris Johnson unantastbar. Doch nun folgt eine Krise auf die nächste, der Premier taumelt. Und ausgerechnet jetzt erwächst ihm ein wirklich gefährlicher Gegner.

Kommentar von Michael Neudecker

Tony Blair war nicht beim Labour-Parteitag in Brighton in den vergangenen Tagen, auch wenn viele Menschen behaupteten, sie hätten ihn gesehen. Und zwar im großen Saal im Brighton Centre: mitten auf der Bühne. Er habe sich nur als Keir Starmer verkleidet.

Tony Blair war von 1997 bis 2007 britischer Premierminister, er war der Politiker der Labour-Partei, der das Land am längsten regierte. Blair stand in der sogenannten Mitte, also dort, wo man Wahlen gewinnt. Nach ihm stand Labour nirgendwo mehr, die Partei verlor sich in Streits über die eigene Identität. Der Messias des radikal linken Parteiflügels, Jeremy Corbyn, führte Labour vor zwei Jahren zu einer historischen Wahlniederlage gegen Boris Johnsons Brexiteers. Trotzdem beanspruchen Corbyn und seine Fans, die "Corbynistas", bis heute für sich, den wahren Labour-Kern zu bilden. Auch beim Parteitag in Brighton war das so, Corbyn war ständig präsent rund um die Konferenzhotels am Strand.

Der frühere Oberstaatsanwalt Keir Starmer, seit 18 Monaten Labour-Chef, taumelte in Brighton anfangs wie ein unsicherer Boxer, steckte Seitenhiebe ein und immer wieder eine harte Linke. Aber am Ende holte er zur rechten Geraden aus. Und verließ Brighton als Sieger.

Eine gute Rede macht noch keinen Premier

Seine Kritiker werden zwar nicht über Nacht verschwinden. Eine gute Rede macht noch keinen Premier, und die nächsten Wahlen sind voraussichtlich frühestens in zwei Jahren. Und doch wird man sich womöglich an diese zwei Wochen Ende September/Anfang Oktober 2021 als die Zeit erinnern, in der sich in Großbritannien die politischen Kräfteverhältnisse zu ändern begannen. Die Tage, an denen Boris Johnsons Unantastbarkeit zu Ende ging.

Bei seiner programmatischen Rede ließ Starmer keinen Zweifel daran, dass er aus Labour wieder eine Regierungspartei machen will. Er sagte die Worte "Tony" und "Blair" zwar nicht, aber er versteckte seine Anspielungen kaum, listete die Erfolge von Blairs Regierung auf und erklärte den Kampf gegen Kriminalität zu einem Schwerpunktthema - wie das auch schon sein Vorbild getan hatte. Indem er auch noch das Militär lobte und rief, alle im Saal seien Patrioten, positionierte er sich endgültig gegen die Parteilinken. Wie oft die Mitglieder während der Rede aufsprangen, wie begeistert die gleichen Menschen, die noch vor nicht allzu langer Zeit Tony Blair verdammten, nun diesem Mann applaudierten, der aussah wie Starmer und sprach wie Blair, das hat sogar manche in Starmers Team überrascht. Und während Starmer den Beifall in Brighton genoss, standen im Land die Menschen an den Tankstellen an und schimpften über Boris Johnsons Regierung.

Noch vor ein paar Wochen war es kaum vorstellbar, dass Johnsons gewaltige 80-Sitze-Mehrheit im Parlament in zwei oder drei Jahren in eine Minderheit umgedreht werden könnte. Nun aber stolpert Johnson stümpernd von einer Krise in die nächste, erst die Gaskrise, dann die Benzinkrise, beides - wie das, was noch kommen wird - vereinbar unter der Überschrift "Versorgungskrise".

Mit dem Brexit hat Johnson ausgespielt, so die Hoffnung

Starmer bezeichnete Johnson am Mittwoch als Trickser, der seinen einen Trick ausgespielt hat: den Brexit. Tatsächlich wird nun offenbar, dass Johnsons Regierung zwar viel darüber spricht, wie ein Großbritannien nach dem Austritt aus der EU aussehen soll, aber erschreckend wenig dafür getan hat. Zwar ist gewiss nicht alles nur auf den Brexit zurückzuführen, zu wenige Lastwagenfahrer etwa gibt es auch in anderen Ländern. Offene Grenzen aber erleichtern den Umgang mit Versorgungsengpässen. Geschlossene Grenzen verkomplizieren alles.

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Der Brexit ist passiert. Großbritannien braucht keine Debatte mehr darüber, ob er richtig oder falsch war, sondern eine Regierung, die mit den Folgen umgeht. Starmer sagte in Brighton auch, er wolle Johnsons Slogan "Get Brexit Done" in seinen eigenen Dreiwortsatz verwandeln: "Make Brexit Work". Sorge dafür, dass der Brexit funktioniert. Das ist keine plötzliche Abkehr von seiner Haltung als Brexit-Gegner, sondern ein Pragmatismus, den dieses historisch doch so pragmatische Land wieder dringend nötig hat.

Am Sonntag beginnt in Manchester der Parteitag der Tories. In deren Drehbuch stand ursprünglich, dass sich erst Labour öffentlich zerstreiten würde, während Boris Johnson sich voller Vorfreude auf seine heilige Messe in Manchester vorbereitet. Das Drehbuch ist jetzt zerrissen. Boris Johnson hat zwar oft genug gezeigt, dass er jederzeit imstande ist, neue Drehbücher zu schreiben, in denen er die Hauptrolle spielt. Für den Moment aber geht Starmer gestärkt aus seinem Parteitag hervor, und Johnson muss fürchten, dass ihm seine verärgerten Wähler und Parteimitglieder in Manchester sein Versagen vorhalten.

Die Financial Times formulierte vor ein paar Wochen treffend: Labour müsse erst ein Problem finden, das es lösen könne, wenn es Johnson besiegen wolle. Es sieht es so aus, als hätte Johnson selbst seinen Gegnern diesen Gefallen getan.

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