Verifizierung von Online-Content:Wie die "Tagesschau" Videos und Fotos prüft

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Für Bilder aus Krisengebieten, wie dem syrischen Kriegsschauplatz Aleppo (Bild), sind Nachrichtenredaktion häufig auf Internetquellen wie Youtube angewiesen. (Foto: Tagesschau/ARD)

Quelle: Internet. Bildmaterial aus Krisengebieten ist unsicher und nicht selten manipuliert. Ein Redaktionsbesuch in der öffentlich-rechtlichen Prüfstelle.

Von Sebastian Jannasch

Menschen laufen in Panik durch staubige, von Trümmerteilen zersprengte Straßen. Sirenen heulen. In meterhohen Schuttbergen suchen Helfer nach Überlebenden. Kinder ringen nach Luft, werden auf einer Krankenstation per Sauerstoffmaske beatmet.

Die verstörenden Szenen sollen Folgen eines Luftangriffs auf die syrische Stadt Aleppo Anfang September sein. Kämpfer von Machthaber Assad hätten bei dem Angriff Chlorgas eingesetzt, heißt es von den Rebellen. Verwackelte Handyaufnahmen im Netz sollen die vermeintliche Attacke des syrischen Diktators beweisen.

Sollen, heißt es, vermeintlich - Informationen aus Krisengebieten sind oft unsicher, widersprüchlich, nicht selten manipuliert. In Hamburg-Lokstedt, 3500 Kilometer von Aleppo entfernt, verbringen Michael Wegener und die Kollegen seiner Online-Einheit oft Stunden damit, aus dem "sollen" ein "sind" zu machen, also herauszufinden, ob die schrecklichen Bilder echt sind. Wegener, 52, arbeitet bei ARD-aktuell, der Redaktion von Tagesschau und Tagesthemen. "Wir führen hier jeden Tag einen Indizienprozess durch", sagt er. Sind die Bilder aktuell? Sprechen die Menschen den richtigen arabischen Dialekt?

"Content Center", so nennt die ARD ihr Online-Kommando für Verifizierung

Für Nachrichtenredaktionen ist es eine Herausforderung, Aufnahmen mit fragwürdiger Herkunft im Internet zu überprüfen. Lügenpresse-Rufe auf der Straße und Vorwürfe in einschlägigen Blogs, Presse und Öffentlich-Rechtliche würden über Konflikte wie in der Ukraine und in Syrien manipulativ berichten, erhöhen zusätzlich den Druck, Quellen sorgfältig zu prüfen.

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Sicherzustellen, dass Aufnahmen aus Kriegsgebieten, von Zugunglücken oder Naturkatastrophen auch wirklich zeigen, was ihre Urheber behaupten, ist ein mühsamer Prozess. Immer wieder spielt Wegener das Video aus Syrien ab, dann stoppt er es. "Hier", sagt er und deutet auf ein zerknautschtes Auto auf dem Bildschirm, "haben wir einen Hinweis." Das erste Indiz ist ein Kennzeichen. Ziffern und arabische Schriftzeichen sind angeordnet wie in Syrien. Mittlerweile kennt sich der Journalist gut aus dort. "Die Berge rund um die westsyrische Stadt Homs kann ich mittlerweile auch problemlos identifizieren, wenn man mich nachts weckt."

Gegründet wurde das "Content Center", wie die ARD ihr Online-Kommando für die Verifizierung nennt, vor mehr als fünf Jahren. Nicht als TÜV für Internet-Quellen, sondern als Instrument, um bei brisanten Ereignissen schnell Aufnahmen heranzuschaffen. Ein Auslöser war der Amoklauf von Winnenden 2009, als es Stunden dauerte, bis ein Übertragungswagen die ersten Bilder lieferte, es online hingegen schon Aufnahmen von Augenzeugen gab. "Das Internet ist längst eine wichtige Quelle für Bilder und Videos, auf die wir nicht verzichten können", sagt Christian Nitsche, stellvertretender Chefredakteur von ARD-aktuell. Eine Folge: ARD-Reporter können nun mit der Tagesschau-App Bilder live ins Fernsehen übertragen. "Der nächste logische Schritt ist es, allen Nutzern der App die Möglichkeit zu geben, uns Fotos und Videos zu schicken", sagt Nitsche. Überlegungen für Pilottests gibt es bereits.

Auch andere Sender wollen nicht auf die Quelle Internet verzichten. Beim ZDF begutachten zwei Fachleute Aufnahmen aus fragwürdigen Quellen. Bei Bedarf zieht die Mainzer Redaktion Experten hinzu. Die Nachrichtenredaktion von Pro Sieben Sat 1 berichtet, dass ihr häufiger manipulierte Videos angeboten werden. In einem Fall sollte ein Video angeblich sexuelle Übergriffe aus der Kölner Silvesternacht zeigen. Tatsächlich handelte es sich aber um Belästigungen junger Frauen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Auch bei RTL Aktuell hat man unliebsame Erfahrungen mit Falschmeldungen im Netz gemacht: "Nach einem Terroranschlag dauert es keine anderthalb Minuten, bis Bilder des angeblichen Tatorts oder Täters gepostet werden", sagt Redaktionsleiter Gerhard Kohlenbach. Insgesamt 15 Mitarbeiter sind dafür geschult, manipulierte Aufnahmen zu erkennen.

Um im hektischen Redaktionsalltag nicht der Versuchung schnell verfügbarer Bilder zu erliegen, folgt die Überprüfung bei der Tagesschau einem festen Muster. Zunächst ist ein kritischer Geist gefragt: Sind Uniformen oder Abzeichen von Menschen zu erkennen? Stimmen die Eindrücke mit Berichten anderer Quellen überein? Den Online-Detektiven hilft dabei beispielsweise das Portal Panoramio, das Fotos von Orten auf der ganzen Welt zeigt. So lassen sich markante Gebäude oder Berge im Hintergrund einordnen. "Wir versuchen außerdem immer, Kontakt mit den Urhebern aufzunehmen", sagt ARD-Mann Wegener. Ein Anruf bei Korrespondenten oder lokalen Informanten kann den Internet-Forensikern ebenfalls helfen.

Den Strom der Bilder noch schneller kanalisieren

Mit technischen Kniffen lässt sich oft herausfinden, ob Fotos nachträglich bearbeitet wurden. Per Rückwärtssuche auf Google kann man feststellen, ob ein angeblich neues Bild schon vorher im Internet aufgetaucht ist. Diese Funktion war nach dem Absturz der Germanwings-Maschine im Frühjahr 2015 sehr nützlich, als vermeintliche Aufnahmen der Unglücksmaschine das Netz fluteten. Die allermeisten waren Fakes und zeigten frühere Abstürze.

Um in akuten Krisensituationen den Strom der Bilder noch schneller zu kanalisieren, hat die ARD die Bildung eines Netzwerkes mit anderen europäischen Sendern forciert. Experten aus 20 Ländern tauschen sich nun per Whatsapp aus. Dabei profitieren die Journalisten von der Ortskenntnis der Redaktionen. "Für die französischen Kollegen war es ein Leichtes zu erkennen, ob angebliche Bilder vom Terroranschlag in Paris wirklich dort entstanden sind", sagt Wegener.

Doch Online-Teams, Rückwärtssuche und Metadaten-Analysen zum Trotz - nicht immer gelang es der Tagesschau, Fälschungen aufzuspüren. So zeigte das ukrainische Fernsehen vor gut zwei Jahren Bilder eines angeblich von Separatisten abgeschossenen ukrainischen Hubschraubers. Die Tagesschau übernahm die Darstellung. Tatsächlich waren es eingeschleuste Archivbilder aus Syrien. Über den Fehler wurde auf dem Tagesschau-Blog informiert.

Aus der Erfahrung hat man gelernt und ist noch vorsichtiger geworden. "Unser höchstes Gut ist die Glaubwürdigkeit. Im Zweifel entscheiden wir uns gegen die Veröffentlichung", sagt Tagesschau-Vize Nitsche. So geschah es auch im Fall des mutmaßlichen Chlorgas-Angriffs auf Aleppo. Zu unklar blieb, ob der chemische Kampfstoff wirklich eingesetzt wurde und selbst wenn, von welcher Seite. Und so müssen Michael Wegener und Kollegen manch einen Indizienprozess ungelöst einstellen.

© SZ vom 19.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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