Journalismus:Warum sich die Berichterstattung über Terror ändern muss

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Jedes vom IS oder seinen Anhängern produzierte Bild wurde für die Medien geschaffen (Foto: Grafik: Christian Tönsmann)

Terroristen messen den Erfolg ihrer Anschläge auch am medialen Widerhall. Verschweigen ist keine Lösung, aber die neue Bedrohung erfordert neue Regeln.

Von Georg Mascolo und Peter Neumann

Die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher hielt im Juli 1985 eine Rede vor der amerikanischen Anwaltsvereinigung. In den Tagen zuvor hatte die Welt atemlos ein 17-tägiges Entführungsdrama verfolgt. Eine der schiitischen Miliz der Hisbollah nahestehende Gruppe hatte eine Maschine der US-Fluglinie TWA entführt, rund um die Uhr hatten Medien über das Drama berichtet. Später wurde errechnet, dass die großen amerikanischen Fernsehsender im Schnitt 28,8 Meldungen pro Tag brachten. Sogar der Anführer der Terroristen wurde interviewt. "Irgendwelche abschließenden Worte an Präsident Reagan heute früh?", fragte ein Moderator von ABCs Good Morning America.

Thatcher nutzte ihren Auftritt, um die Medien hart zu kritisieren: Es brauche einen Verhaltenskodex - und wie der aussehen sollte, erklärte sie ebenfalls. Es müsse ein Ende haben mit der Berichterstattung über terroristische Taten. Denn den Terroristen müsse der Zugang zum "Sauerstoff der Publizität" entzogen werden, von dem sie abhängen. Im britischen Fernsehen und Radio durften jahrelang die Stimmen von Politikern der Sinn Féin, des politischen Flügels der IRA, nicht zu hören sein - ihre Statements wurden von Schauspielern nachgesprochen. Das Schweigen der Medien werde auch das Ende des Terrorismus bedeuten, prophezeite die britische Regierungschefin. Lange bevor er Ministerpräsident wurde, schloss sich auch der israelische Politiker Benjamin Netanjahu dieser These an: Ohne Öffentlichkeit, so Netanjahu, wäre Terrorismus wie der sprichwörtliche Baum, der im Wald umfällt.

IS revolutioniert die Mittel der Propaganda

Mit Thatchers Rede in der Londoner Albert Hall 1985 begann eine lebhafte Diskussion, die in diesen Tagen aufs Neue ausgebrochen ist - spätestens seit einige französische Medien angekündigt haben, die Namen von Attentätern nicht mehr zu nennen und ihre Fotos nicht mehr zu zeigen. Wie viel und vor allem welche Berichterstattung ist angemessen? Wo verläuft die Grenze zwischen richtiger und notwendiger Information der Öffentlichkeit und einer Berichterstattung, die den Terroristen in die Hände spielt?

Beim Terrorismus geht es nicht in erster Linie ums Töten. Es geht vielmehr um das "Terrorisieren", es ist eine spezielle Form der Provokation. Eine Tat, die keine Verbreitung findet, ist daher nutzlos. Schon die Anarchisten machten sich die im 19. Jahrhundert beginnende Massenproduktion von Zeitungen zunutze. In den Achtzigerjahren wurden Flugzeugentführungen für das Fernsehen geradezu inszeniert. Und Timothy McVeigh, der 1995 in Oklahoma ein Verwaltungsgebäude der US-Bundesbehörden in die Luft sprengte, gestand später, er habe dieses wegen des "guten Kamerawinkels" ausgesucht. Al-Qaida schuf mit dem Einsturz der Twin Towers die bis heute einprägsamsten Bilder eines terroristischen Anschlags. Von Osama bin Laden soll der unter Islamisten geltende Lehrsatz stammen, dass ein Radiosender wichtiger sei als eine Atombombe. Der Anschlag auf die Londoner U-Bahn 2005 soll innerhalb der Organisation kritisch kommentiert worden sein: Unter der Erde gäbe es zu wenig Bilder.

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Nun führt der sogenannte Islamische Staat, der nichts anderes ist als eine ehemalige Teilorganisation der al-Qaida, auf besonders grausame Art und Weise den Dschihad fort. Wie keine terroristische Organisation zuvor hat der IS auch die Mittel der Propaganda revolutioniert. Er stößt eine ungeheure Anzahl von Botschaften, Videos und Erklärungen aus. Nach Zählung des Bundesnachrichtendienstes sind es 30 bis 40 "Propagandaeinheiten" pro Tag. Keine "Altherren-Videos" mehr wie noch unter Osama bin Laden, schreibt der BND, sondern hochprofessionell produziertes Material, eine "industriell anmutende Propagandaproduktion".

Der IS ernannte Medienverantwortliche und lässt sie untereinander Wettbewerbe abhalten. Die Sieger werden mit Computern, Kameras, CD-Druckern und anderen Prämien belohnt. Längst misst der IS den Erfolg einer Tat nicht nur anhand der Zahl der Toten, sondern auch anhand der Länge von Sondersendungen und der Größe der Schlagzeilen in den Zeitungen.

Doch würde man Thatchers Forderung, überhaupt nicht mehr zu berichten, nachkommen, müssten nicht nur die Medien schweigen, sondern auch Gesellschaft und Politik. Es gäbe keine Trauergottesdienste, keine Pressekonferenz der Bundeskanzlerin und keinen französischen Präsidenten, der an die Tatorte eilt. Thatchers Forderung setzte sich nicht durch: Verschweigen kann keine Lösung sein. Und heute, im Zeitalter des Internets, verbreiten sich die Meldungen ohnehin. Das Schweigen der Medien würde nur dazu führen, dass sich Verschwörungstheorien noch schneller verbreiten. Und doch: Überlegungen, wie eine Berichterstattung über Terrorismus aussehen sollte, sind notwendig.

Sie beginnen bei der Verwendung von Bildern des "Islamischen Staats". In den USA zeigten Sender wie CNN vor Jahren noch Videos von Enthauptungen. Der US-Sender Fox News stellte den 22-minütigen Film von der Verbrennung eines jordanischen Piloten auf seine Website - er ist bis heute online. Sogar der hauseigene Medienexperte Howard Kurtz meldete Zweifel an: "Ich mache mir Sorgen, dass wir dabei behilflich sind, die Angst zu verbreiten, die Isis so dringend verbreiten will." Die Moderatorin Megyn Kelly widersprach mit einem gewagten Vergleich: "Es ist, als wären wir im Zweiten Weltkrieg und hätten die Chance, einen Blick in die Konzentrationslager und in die Gaskammer zu werfen, während dort das Grauen geschieht."

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Die Nazis aber versuchten, ihre Verbrechen geheim zu halten. Der IS twittert sie in alle Welt. Inzwischen werden auch Videos von den Taten selbst produziert. Es begann bereits mit Beginn der französischen Anschlagswelle. In Toulouse ermordete 2012 ein Islamist innerhalb von neun Tagen sieben Menschen. Er fuhr mit einem Motorroller umher, schoss mit einer Handfeuerwaffe und filmte die Opfer mit einer kleinen Videokamera, die er um den Hals trug. Ein 25-minütiges Video wurde auf einem USB-Stick an das Pariser Büro des Fernsehsenders Al Jazeera verschickt.

Vorsicht bei der Verbreitung von ISIS produzierter Bilder, denn sie dienen als Gegenstand der Propaganda

Im Juni 2016 ermordete ein Islamist bei Paris einen Polizisten und dessen Frau. Dann streamte er seinen Treueschwur auf den IS aus der Wohnung der Opfer live auf Facebook. Jedes vom IS oder seinen Anhängern produzierte Bild wurde für die Medien geschaffen. Es soll größtmögliche Verbreitung finden und muss deshalb als das behandelt werden, was es ist: ein Gegenstand der Propaganda. Bei solchem Material ist größte Zurückhaltung geboten - nicht nur bei Bildern der Taten, sondern auch von fahnenschwenkenden und marschierenden IS-Anhängern oder bei Bekenner-Botschaften von Attentätern wie in Ansbach oder Würzburg. Der Würzburger Attentäter lud sein Bekenner-Video drei Mal für seinen Kontaktmann hoch, der es zum IS weiterleiten sollte. So groß war die Sorge, dass die Qualität nicht gut genug sein könnte. Ohne Kontext und Einordnung sollten all diese Bilder überhaupt nicht verwendet werden. Und insgesamt nur sehr, sehr sparsam.

Bei der Sprache gilt Vorsicht so wie bei den Bildern. Täter ohne vorherige Anbindung an den IS werden in den Medien und auch in der Wissenschaft als "Einsame Wölfe" bezeichnet. Ein großes Wort für einen Mörder. In Sicherheitskreisen wurde unlängst diskutiert, ob nicht zumindest die Behörden in ihrer Kommunikation lieber auf diesen Begriff verzichten sollten. Ergebnis für viele ist: Man sollte - um die Täter nicht zu heroisieren.

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Ähnlich vorsichtig sollte man bei der Verwendung von Superlativen sein. Der Zeit-Redakteur Yassin Musharbash wies in einem Vortrag bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes 2015 darauf hin, dass viele Medien die Verbrennung des jordanischen Piloten eine "Eskalation" nannten. Aber schon zuvor, so Musharbash, habe der IS Menschen enthauptet, Menschen von Dächern geworfen, Menschen als Verräter gesteinigt und all dies ebenfalls dokumentiert. "Ist Verbrennen wirklich schlimmer", fragte der Zeit-Journalist - oder habe man hier nicht einfach genau so reagiert, wie es sich der IS wünschte?

Bilder produzieren heute nicht mehr nur die klassischen Medien, sondern auch die sozialen. Beinahe jeder hat heute mit seinem Smartphone auch eine Kamera dabei. Deshalb gibt es eine Flut von Bildern der Täter und ihrer Tatorte. Klassische Medien müssen sehr vorsichtig mit dem sein, was sie hier verbreiten. Doch die Pflicht zur Sorgfalt geht heute auf einen jeden über, der solche Bilder filmt, sie ins Netz stellt oder anders weiterverbreitet. Solche Bilder hätten das Potenzial zu traumatisieren, warnt der Münchner Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins. "Das ist eine Verantwortung, die man in diesem Moment natürlich diesen Hobbyjournalisten, nenne ich sie jetzt mal, oder Freizeit-Filmern wirklich vor Augen führen muss."

Wohin es führen kann, wenn auf einmal überall eine Kamera ist, haben die vergangenen Monate gezeigt. Bei Anti-Terror-Maßnahmen in Brüssel musste die Polizei immer wieder darum bitten, keine Bilder von laufenden Polizeieinsätzen zu zeigen. Bei den Anschlägen in Paris im Januar 2015 konnte die Polizei zeitweilig das Versteck der Geiselnehmer nicht stürmen - denn das Fernsehen berichtete live. "Solange es Live-Bilder gibt, können wir nicht loslegen", erklärten die Sicherheitsbehörden. Vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages erklärte unlängst ein hoher BKA-Beamter, solche Live-Bilder erschwerten die Arbeit ungeheuer - vor allem, wenn die Täter die Vorbereitung von Polizeimaßnahmen live im Fernsehen oder im Internet verfolgen könnten.

Auch bei der Beschreibung von Täter-Biografien muss berücksichtigt werden, dass es etwa bei den jüngsten Anschlägen in Frankreich und Deutschland keine klare Grenze zwischen terroristischer Motivation und psychischer Erkrankung mehr gibt. Ganz neu ist diese Entwicklung nicht. Im Fall des rechtsradikalen Massenmörders Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete - bis zum Lkw-Attentat in Nizza die blutigste Tat eines Einzeltäters - stritten Gutachter jahrelang darüber, ob Breivik an paranoider Schizophrenie litt. Im Prozess sagten vier Sachverständige aus: Zwei hielten Breivik für unzurechnungsfähig, zwei für zurechnungsfähig. Die Staatsanwaltschaft plädierte für die Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt, das Gericht erklärte ihn aber für zurechnungsfähig; er kam ins Gefängnis. Aus der Ausnahme in Terrorismus-Fällen droht nun die Regel zu werden. Denn die Einzeltäter-Strategie des IS - und anderer Gruppen - bietet diesen eine ideale Projektionsfläche.

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Der Täter von Ansbach soll zwei Selbstmordversuche begangen haben. Der Täter in Nizza wurde mit 16 Jahren von seinen Eltern rausgeworfen; sie hatten Angst vor ihm. Mit 19 Jahren war er der New York Times zufolge bereits in psychiatrischer Behandlung. Bei der Berichterstattung über psychisch Kranke und Amokläufer gilt es, besondere Zurückhaltung zu üben, denn hier ist die Gefahr von Nachahmern besonders hoch. Laut einer US-Studie steigt die Gefahr von weiteren Amokläufen direkt nach einer Tat an: um 22 Prozent.

In solchen Fällen ist die von einigen französischen Medien vertretene Linie - keine Namen, keine Bilder - richtig. Der IS versucht, Journalisten einerseits zu benutzen, auf der anderen Seite aber fürchtet er sie. Berichterstatter lässt er nur sehr selten in sein sogenanntes Kalifat. Stattdessen verfolgt die Terrormiliz sie, nimmt sie als Geiseln und tötet sie. Im Oktober 2014 erließ sie eigens Regeln zur Unterdrückung der Berichterstattung in ihrem Herrschaftsgebiet. Die erste und wichtigste: Zugelassen sind nur Journalisten, die dem selbsternannten Kalifen die Treue schwören. Der IS hat unabhängige Berichterstattung als das erkannt, was sie ist: eine Bedrohung.

Journalisten sind keine Terrorismus-Bekämpfer

Je schwerer der IS die Berichterstattung macht, umso größer müssen die journalistischen Anstrengungen sein, über sein wahres Gesicht zu berichten. Journalisten sind keine Terrorismus-Bekämpfer - aber notwendig sind Fakten gegen die vom IS verbreiteten Mythen. Berichte über die massenhaften Desertionen etwa oder über die Korruption im Kalifat, die inzwischen so groß ist, dass sogar Mitgliederlisten der Terroristen verkauft werden. Oder Geschichten wie die in der Washington Post. Sie beschreibt, dass der IS Leute abgestellt hat, um gefallene Kämpfer zu bergen. Sie waschen ihnen das Blut ab, öffnen ihre Augen, verändern die starren Gesichtszüge so, dass ein Lächeln entsteht. Ganz so, als wären sie nicht unter Qualen gestorben, sondern freudig ins Paradies eingezogen.

Die staatliche Medienaufsicht in Frankreich verhängte nach den Anschlägen im Januar des vergangenen Jahres 15 Verwarnungen und 21 Abmahnungen gegen Medien. Es war zu schlimmen Grenzüberschreitungen gekommen. So wurde etwa die Exekution eines muslimischen Polizisten vor der Redaktion des von Terroristen überfallenen Satire-Blattes Charlie Hebdo gezeigt. Auch hieß es in einem Bericht, dass sich die Geiseln in einem jüdischen Supermarkt in einem Kühlraum versteckt hatten. Betroffene verklagten später die berichtenden Medien: Durch die Berichterstattung seien sie in Lebensgefahr gebracht worden. Seither sind die französischen Medien zurückhaltender geworden. Die für Opferbetreuung zuständige Staatssekretärin Juliette Méadel hat dennoch Empfehlungen für die Berichterstattung angekündigt: "Wir müssen die Berufsethik der Journalisten nach den Terroranschlägen neu definieren."

In Deutschland gibt es aus guten Gründen keine staatliche Medienaufsicht. Aber es gibt eine Verpflichtung zur Selbstkontrolle sowie die Empfehlungen des Presserates. Ausdrückliche Regeln für Terrorismus-Berichterstattung gibt es nicht - aber inzwischen werden erste Forderungen danach laut. Ein Satz aus den Leitlinien zur Berichterstattung über Gewalttaten aber ist hilfreich: "Die Presse lässt sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen."

Peter Neumann, Co-Autor des Journalisten Georg Mascolo, ist Experte für islamistischen Terror und Professor am Londoner King's College.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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