Die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher hielt im Juli 1985 eine Rede vor der amerikanischen Anwaltsvereinigung. In den Tagen zuvor hatte die Welt atemlos ein 17-tägiges Entführungsdrama verfolgt. Eine der schiitischen Miliz der Hisbollah nahestehende Gruppe hatte eine Maschine der US-Fluglinie TWA entführt, rund um die Uhr hatten Medien über das Drama berichtet. Später wurde errechnet, dass die großen amerikanischen Fernsehsender im Schnitt 28,8 Meldungen pro Tag brachten. Sogar der Anführer der Terroristen wurde interviewt. "Irgendwelche abschließenden Worte an Präsident Reagan heute früh?", fragte ein Moderator von ABCs Good Morning America.
Thatcher nutzte ihren Auftritt, um die Medien hart zu kritisieren: Es brauche einen Verhaltenskodex - und wie der aussehen sollte, erklärte sie ebenfalls. Es müsse ein Ende haben mit der Berichterstattung über terroristische Taten. Denn den Terroristen müsse der Zugang zum "Sauerstoff der Publizität" entzogen werden, von dem sie abhängen. Im britischen Fernsehen und Radio durften jahrelang die Stimmen von Politikern der Sinn Féin, des politischen Flügels der IRA, nicht zu hören sein - ihre Statements wurden von Schauspielern nachgesprochen. Das Schweigen der Medien werde auch das Ende des Terrorismus bedeuten, prophezeite die britische Regierungschefin. Lange bevor er Ministerpräsident wurde, schloss sich auch der israelische Politiker Benjamin Netanjahu dieser These an: Ohne Öffentlichkeit, so Netanjahu, wäre Terrorismus wie der sprichwörtliche Baum, der im Wald umfällt.
IS revolutioniert die Mittel der Propaganda
Mit Thatchers Rede in der Londoner Albert Hall 1985 begann eine lebhafte Diskussion, die in diesen Tagen aufs Neue ausgebrochen ist - spätestens seit einige französische Medien angekündigt haben, die Namen von Attentätern nicht mehr zu nennen und ihre Fotos nicht mehr zu zeigen. Wie viel und vor allem welche Berichterstattung ist angemessen? Wo verläuft die Grenze zwischen richtiger und notwendiger Information der Öffentlichkeit und einer Berichterstattung, die den Terroristen in die Hände spielt?
Beim Terrorismus geht es nicht in erster Linie ums Töten. Es geht vielmehr um das "Terrorisieren", es ist eine spezielle Form der Provokation. Eine Tat, die keine Verbreitung findet, ist daher nutzlos. Schon die Anarchisten machten sich die im 19. Jahrhundert beginnende Massenproduktion von Zeitungen zunutze. In den Achtzigerjahren wurden Flugzeugentführungen für das Fernsehen geradezu inszeniert. Und Timothy McVeigh, der 1995 in Oklahoma ein Verwaltungsgebäude der US-Bundesbehörden in die Luft sprengte, gestand später, er habe dieses wegen des "guten Kamerawinkels" ausgesucht. Al-Qaida schuf mit dem Einsturz der Twin Towers die bis heute einprägsamsten Bilder eines terroristischen Anschlags. Von Osama bin Laden soll der unter Islamisten geltende Lehrsatz stammen, dass ein Radiosender wichtiger sei als eine Atombombe. Der Anschlag auf die Londoner U-Bahn 2005 soll innerhalb der Organisation kritisch kommentiert worden sein: Unter der Erde gäbe es zu wenig Bilder.
Nun führt der sogenannte Islamische Staat, der nichts anderes ist als eine ehemalige Teilorganisation der al-Qaida, auf besonders grausame Art und Weise den Dschihad fort. Wie keine terroristische Organisation zuvor hat der IS auch die Mittel der Propaganda revolutioniert. Er stößt eine ungeheure Anzahl von Botschaften, Videos und Erklärungen aus. Nach Zählung des Bundesnachrichtendienstes sind es 30 bis 40 "Propagandaeinheiten" pro Tag. Keine "Altherren-Videos" mehr wie noch unter Osama bin Laden, schreibt der BND, sondern hochprofessionell produziertes Material, eine "industriell anmutende Propagandaproduktion".
Der IS ernannte Medienverantwortliche und lässt sie untereinander Wettbewerbe abhalten. Die Sieger werden mit Computern, Kameras, CD-Druckern und anderen Prämien belohnt. Längst misst der IS den Erfolg einer Tat nicht nur anhand der Zahl der Toten, sondern auch anhand der Länge von Sondersendungen und der Größe der Schlagzeilen in den Zeitungen.