Glaubwürdigkeit der Presse:"Der beste Journalismus ist heute besser denn je"

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Medienforscher Rasmus Kleis Nielsen ist überzeugt, dass etablierte Blätter Vertrauen genießen. Sie müssten sich aber die Frage stellen: Was ist für den Leser wichtig?

Interview von Alexandra Borchardt

Das Reuters Institut for the Study of Journalism residiert in einer beschaulichen Villa in Oxford, zerknitterte Zeitungen liegen auf dem Tisch in der Teeküche, hier wird noch auf Papier gelesen. Inmitten der Idylle befassen sich Forscher mit den Umbrüchen in der Medienlandschaft. Gerade ist der Reuters Digital News Report 2016 erschienen, Rasmus Kleis Nielsen, 35, Director of Research, hat ihn mitverfasst.

SZ: Das Votum der Briten für den Brexit war ein böses Erwachen, plötzlich wollte niemand den EU-Austritt gewollt haben. Haben die britischen Medien versagt?

Rasmus Kleis Nielsen: Die britischen Medien stehen politisch überwiegend rechts, die meisten Zeitungen waren für den Brexit. Deshalb kam das nicht überraschend. Trotz aller digitalen Informationsmöglichkeiten setzen die Zeitungen hier immer noch die Agenda für die anderen Medien, insbesondere für das Fernsehen. Aus diesem Grund hatten es auch die Politiker schwer, die für den Verbleib in der EU geworben haben.

Etablierte Medien könnten das als gute Nachricht interpretieren: Sie haben immer noch etwas zu sagen.

Absolut! Trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind die etablierten Medien politisch immer noch sehr, sehr wichtig. Die politische Elite ist auf die Berichterstattung angewiesen.

In Deutschland beunruhigt die Diskussion um die "Lügenpresse".

Hier in Großbritannien und in vielen anderen Ländern ist das Problem, dass sich viele Menschen an den Rand gedrängt und vom politischen Prozess abgekoppelt fühlen. Die Medien werden als Teil des Establishments betrachtet, und die Menschen misstrauen dem Establishment, also auch den Medien. Sie glauben nicht wirklich, dass die Medien ihrer Funktion gerecht werden, die Mächtigen zu kontrollieren.

Laut dem neuen Digital News Report ist das Vertrauen in die Medien in Deutschland vergleichsweise hoch. In Griechenland, dem Schlusslicht der untersuchten 26 Länder, sagt nicht einmal jeder Fünfte, er vertraue den Medien.

In vielen europäischen Ländern schwindet das Vertrauen der Menschen in Institutionen. Generell vertrauen die Menschen in Deutschland, den Niederlanden und Skandinavien den etablierten Medien mehr als die in Südeuropa oder den USA. Zwei Variablen beeinflussen das entscheidend: erstens politische Polarisierung. Je mehr Menschen die gegenwärtige Politik ablehnen, desto weniger vertrauen sie den Medien. Zweitens ist das wirtschaftliche Ungleichheit. Je stärker sich Menschen wirtschaftlich abgehängt und in ihren Nöten ignoriert fühlen, umso weniger vertrauen sie den Medien. Das ist nicht überraschend.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Qualität der Medien und dem Vertrauen in sie?

Wie misst man Qualität? Zum Beispiel würde ich viele Boulevard-Medien in Europa nicht wirklich als Qualitätsmedien bezeichnen. Dennoch haben sie sich der Sorgen kleiner Leute traditionell sehr stark angenommen, stärker als die Qualitätsmedien oder die öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Aus dem Blickwinkel der Arbeiterklasse hatten die Boulevard-Medien immer sehr hohe Qualität in dem Sinn: Sieht jemand die Welt, wie ich sie sehe.

Eine Zeitung wie die SZ würde Qualität natürlich anders definieren.

Natürlich gibt es andere Qualitätskriterien: Genauigkeit, Transparenz, Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit, wie man mit Quellen umgeht. Wir wissen leider noch zu wenig darüber, wie diese Kriterien bestimmen, was die Menschen über Medien denken. Aber vieles, was Leser und Zuschauer von Journalisten erwarten, deckt sich nicht mit dem, was Journalisten von sich selbst erwarten.

Was meinen Sie?

Ein Beispiel: Viele Menschen finden Journalismus extrem negativ, zu sehr auf Probleme fokussiert. Leser sind frustriert, wenn sie nur über Schlechtes lesen.

Aber das ist der Job: Die Mächtigen zu kontrollieren und aufzudecken, was nicht so funktioniert, wie es sollte und könnte.

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SZ-Grafik; Quelle: Reuters Institute.

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SZ-Grafik; Quelle: Reuters Institute.

SZ-Grafik; Quelle: Reuters Institute.

Journalisten müssen sich klar darüber sein: Journalismus hat nur im Zusammenhang mit seinem Publikum eine Daseinsberechtigung. Wenn sie keine Leser und Zuschauer haben, haben sie keinen Einfluss. Wenn sie privat organisiert sind, haben sie dann kein Geschäft, als öffentlich-rechtliches Medium keine Legitimität, sie werden irgendwann nicht mehr existieren. Deshalb muss Journalismus auch immer vom Publikum her aufgebaut werden.

Aber manches auf der Welt ist wichtig, ob Leser das spannend finden oder nicht.

Viele Journalisten denken nicht gerne vom Leser her. Warum? Wären Menschen generell dumm und oberflächlich, könnte ich verstehen, dass man das nicht abbilden will. Aber das ist nicht so. Überall interessieren sich viele Leute für öffentliche Angelegenheiten, für gesellschaftliche Entwicklungen. Journalismus hatte ursprünglich Aufklärung zum Ziel. Er ging von der Annahme aus, dass jeder in der Lage ist, seinen Verstand zu benutzen. Das ist doch eine stolze Tradition! Heute wird leider viel Journalismus von Journalisten für andere Journalisten geschrieben.

Können Sie Beispiele nennen?

Zum Beispiel investieren Medien viel zu viel Geld und Energie darin, die Ersten zu sein. Das interessiert niemanden! Warum machen Medien das? Weil es ihre Definition von Qualität ist. Ein anderes Beispiel: Politikberichterstattung. Das ist viel zu oft ein Insider-Geschäft zwischen Quellen und Reportern. Journalisten werden hineingezogen in diese Blase: Habe ich das exklusiv? Normalen Menschen bringt das nur etwas, wenn eine Verbindung zu ihrem täglichen Leben hergestellt wird. Viel zu selten fragen Redaktionen: Warum ist das für unsere Leser wichtig?

Sollten Medien stärker mit dem Publikum in Kontakt treten?

Meine Meinung dazu ist: Die Leser, die am lautesten sind, repräsentieren höchstwahrscheinlich nicht die Mehrheit der Leser oder gar der Bevölkerung. Wenn man Debatten unter Online-Artikeln zulässt, müssen die sehr gut moderiert sein, damit das andere Leser nicht abschreckt. Die Faustregel ist: Ein Prozent engagiert sich, neun Prozent melden sich vielleicht, 90 Prozent bevorzugen es, einfach zu lesen. Das sollte man immer im Kopf behalten.

Soziale Netzwerke gehen auf die Bedürfnisse ihrer Leser ein, indem Programme ihnen automatisch Geschichten anbieten, die sich an persönlichen Lesegewohnheiten orientieren. Laut dem Digital News Report wissen viele Befragte, dass solche Algorithmen skeptisch zu betrachten sind. Dennoch ziehen sie die Software dem vor, was Journalisten aussuchen.

Ja, die Menschen vertrauen Journalisten weniger als Algorithmen. Das ist ein Weckruf in einer Zeit, in der die Traditionsmedien proklamieren, dass ihre Qualität sie anderen Nachrichtenkanälen überlegen macht. Die Reihenfolge ist: Menschen bevorzugen automatisierte Empfehlungen, die sich nach ihren früheren Lesemustern richten. An zweiter Stelle vertrauen sie Journalisten. Den Empfehlungen durch soziale Medien trauen sie am wenigsten. Kurz: Sie vertrauen sich selbst mehr als Journalisten und vertrauen Journalisten mehr als ihren Freunden. Aber sie sind sich auch dessen bewusst, dass jede Form der Auswahl Nachteile hat.

Welche Nachteile werden genannt?

Die Gefahr, dass Algorithmen ihnen immer das Gleiche aussuchen und sie in der berühmten Filterblase stecken, oder dass ihre Präferenzen nicht länger Privatsache sind. Wir betrachten Algorithmen skeptisch, und trotzdem schätzen wir sie, weil sie Dinge für uns tun, auf die wir nicht verzichten wollen. Dasselbe mit der Privatsphäre: Viele Menschen insbesondere in Deutschland sind sehr kritisch, was die Weitergabe ihrer Daten angeht. Trotzdem tragen sie Smartphones mit sich herum, praktisch einen Spion in der Hosentasche.

Wichtig ist auch, wie funktionieren die Algorithmen? Sie sagen, die Medien sollten ihre Algorithmen selbst programmieren.

Historisch betrachtet, waren Medien immer Technologieunternehmen, sie waren nie nur Zuschauer. Denken Sie an die Drucktechnologie, sie hat sich so entwickelt, wie sie heute ist, weil Verlage darin investiert haben. Das Gleiche gilt für Fernsehen und Radio. Leider bewegt sich die Medienbranche heute zunehmend in Umfeldern, die von anderen Akteuren strukturiert werden, den Telekommunikationskonzernen, den großen, amerikanischen Suchmaschinen, Social Media und E-Commerce-Unternehmen.

Die großen vier: Google, Facebook, Amazon, Apple.

Die prägen die Medienbranche heute mehr, als sie es selbst tut. Das bedeutet aber nicht, dass man keine innovativen Technologien entwickeln kann. Es war in der Medienbranche nie so, dass Maschinen Menschen ersetzt haben. Es war immer so, dass diejenigen, die die Maschinen am besten genutzt haben, diejenigen ersetzt haben, die das nicht geschafft haben.

Aber wahr ist doch: Die großen vier haben so viel Geld, da können traditionelle Medienunternehmen gar nicht mithalten.

Ja. Wenn man diese Beziehung als eine der Gegnerschaft sieht, dann ist das Spiel jetzt schon aus. Aber das Problem haben andere Branchen auch.

Zum Beispiel die Autobranche.

Und der Einzelhandel! Die Medien müssen einsehen, dass sie nicht die Mächtigsten in dem Spiel sind. Aber sie sind in vielen Beziehungen nicht die Mächtigsten, etwa auch gegenüber Regierungen nicht. Trotzdem können sie unabhängig, autonom und einflussreich sein. Es ist keine Lösung, ein europäisches Google oder Facebook zu schaffen, solche unsinnigen Ideen werden ja immer mal wieder geäußert. Die Herausforderung ist, mit dem asymmetrischen Kräfteverhältnis umzugehen. Medien profitieren von den Technologien, die von den Großen geschaffen werden.

Wie können Medienunternehmen in dieser asymmetrischen Beziehung überleben? Sich kaufen lassen, so wie Amazon-Chef Jeff Bezos sich die Washington Post gekauft hat?

Es wird in der Branche viele Verlierer geben, und selbst die Gewinner werden Erfolg neu definieren müssen. Wenn diese Definition ist: Wie können wir das gleiche Geld verdienen wie in den Neunzigern, wird niemand erfolgreich sein. Aber wenn die Definition ist: Können wir ein haltbares, moderat profitables Geschäft mit gutem Journalismus aufbauen, dann ist die Antwort ohne Zweifel Ja.

Was heißt das für den Journalismus?

Meine persönliche Sicht ist: Der beste Journalismus ist heute besser denn je. Er ist demütiger mit Blick auf seine Bedeutung, vielfältiger, was die Quellen, die Herkunft der Journalisten, die Themen angeht, er reagiert besser, ist zeitgemäßer, besser zu konsumieren, informativer. Würde man zum Beispiel die Berichterstattung über die Klimakonferenzen in Paris und Kyoto vergleichen, gehe ich jede Wette ein, dass Paris um Längen besser abschneiden würde. Schlechter als in den Neunzigern ist vor allem der Lokaljournalismus geworden, das ist traurig. Gibt es heute mehr Mist da draußen? Ja, denn es ist viel billiger geworden, Mist zu produzieren. Können wir den Bürgern zutrauen, zwischen Mist und gutem Journalismus zu unterscheiden? Ich glaube, viele Menschen können das.

© SZ vom 30.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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