Eines sollte klar sein: Günter Wallraff ist unbedingt zu danken. Dass der inzwischen 69-jährige Kölner Journalist auf seine einfache wie wirkungsvolle Art immer wieder dorthin geht, wo die Arbeitswelt in Deutschland am meisten schmerzt, ist seine große persönliche Leistung, die kaum genug gewürdigt werden kann.
Dass er durch die Erfahrungen, die er am eigenen Leib macht, darüber aufklärt, wo und wie es in dieser Gesellschaft hakt, wo systematisch Menschenrechte übersehen und in großem Stil Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten benachteiligt werden, ist eine so wichtige Aufgabe, dass es eigentlich viel mehr Wallraffs geben müsste.
Aber die gibt es nicht. Also musste Wallraff selber ran. Wieder hat er sich eine Branche vorgenommen, die es in sich hat: den Paketzustelldienst. Unentdeckt hat er sich beim Zusteller GLS einschleusen lassen, von Mitarbeitern, die unter vollem Namen und in vollem Bild bezeugen, was Wallraff aufdecken will: Dass nämlich bei Zustelldiensten wie diesen die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter einer modernen Sklavenhaltung gleichen.
Arbeitstage nicht unter 12 Stunden, ohne Pausen, unbezahlte Überstunden, körperliche Schwerstarbeit, ständiger Stress - und das alles zu Dumpinglöhnen von umgerechnet nur drei bis fünf Euro pro Stunde: Der Enthüllungsjournalist hat diese Schilderungen von ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern gesammelt. Und er ist auch selbst mitgefahren auf diverse Touren, hat Kamera und Mikrofon an verschiedenen GLS-Standorten undercover mitgeführt - und hat nach nur einer Woche entkräftet und enerviert festgestellt: "Das ist kein Leben, das ist eine Tortur."
"Menschenschinderei mit System"
Nach mehreren Monaten Undercover-Recherche ("mich hat keine Sau erkannt - aber einem Dienstboten sieht man auch nicht ins Gesicht") habe er Arbeitsbedingungen festgestellt, die "körperlich, nervlich und finanziell ruinieren", so Wallraff, der von "Menschenschinderei mit System" spricht.
Nicht nur die Fahrer müssten ihren überdimensionierten Einsatz für den Paketdienst mit privaten Problemen psychischer und körperlicher Natur bezahlen. Ihre Vorgesetzten seien manchmal noch schlimmer dran, weil sie als Subunternehmer und Scheinselbständige persönlich haften und teilweise noch durch Strafenkataloge von GLS gezielt in die Insolvenz getrieben würden, sobald sie nicht mehr die gewünschten Gewinne brächten.
Auf den Schuldenbergen blieben sie mit ihren Familien dann ewig sitzen, während der milliardenschwere europaweit agierende Konzern, dessen Geschäft auf dem für Privatkunden freien Versand basiert, auf ihrem Rücken Gewinne einfahre. Das unternehmerische Risiko werde von GLS auf die Subunternehmer ausgelagert, von unternehmerischer Freiheit könne hingegen keine Rede sein.
Viele haushoch verschuldete Ehemalige hat Wallraff aufgetrieben, die glaubhaft ihre verzweifelte Lage schildern. Es sind allesamt Familienväter, viele von ihnen haben ursprünglich als Fahrer bei GLS angefangen. Für einen 23-Jährigen endete zuletzt die frühmorgendliche Fahrt ins Paket-Depot tödlich. Vermutete Ursache: Sekundenschlaf.
Eine ausgemachte Schweinerei also, die Wallraff da wieder aufgedeckt hat. Scheinselbständigkeit ist aus guten Gründen in Deutschland verboten. Arbeiten unter unmenschlichen Bedingungen ebenso. Und Aufklärung tut bitter Not.
Das Problem ist, dass die Paketdienstbranche nicht die einzige ist, die Scheinselbständigkeit und Lohndumping fördert. Die Umstände mögen bei diesem Arbeitgeber besonders bemerkenswert sein, nur: Womöglich hat Wallraff mittlerweile ein Generationenproblem.
Die Maßstäbe, die er an die Bedingungen der Arbeitswelt anlegt, stammen teilweise noch aus einer Zeit, in der Gewerkschaften, Arbeitskämpfe und deren Forderungen für den größeren Teil der arbeitenden Bevölkerung galten. Acht-Stunden-Arbeitstage, vorgeschriebene Ruhepausen, all das ist in Deutschland mal erfolgreich durchgesetzt worden.
Altbekannte Missstände
Die gelebte Realität sieht leider in Teilen der Arbeitswelt längst anders aus. Vielen RTL-Zuschauern dürften die Zustände, die der Investigativjournalist so beeindruckt schildert, gar nicht so fremd vorgekommen sein. Denn der Skandal ist überall. Er zieht sich durch viel mehr Branchen der modernen Arbeitswelt als das an diesem Abend den Anschein hat. Damit zielt die erwünschte Empörung ein bisschen ins Leere.
Scheinselbständigkeit, unbezahlte Überstunden, unbezahlte Nachtarbeit, fehlende Festanstellungen, fehlende Planbarkeit der beruflichen Laufbahn, Perspektivlosigkeit, Lohndumping oder die fehlende Wertschätzung von Arbeitskraft als solcher: Die Schattenseiten der durchflexibilisierten Arbeitswelt sind überall zu finden.
Dazu braucht es eigentlich keinen Undercover-Einsatz von einem mühevoll auf jünger getrimmten Wallraff. Viele jüngere Arbeitnehmer, jahrelange Praktikanten, freie Mitarbeiter, dauerhaft als Neueinsteiger eingestufte Fach- oder Aushilfskräfte, Akademiker, kreative Köpfe oder auch Ungelernte in allen möglichen Bereichen kennen diese oder ähnliche Arbeitsbedingungen nur zu gut. Sie leben seit Jahren damit. Und das nicht aus Dummheit, Unaufgeklärtheit oder weil sie es nicht besser wissen wollten, sondern aus Mangel an Alternativen.
Insofern wirken einige von Wallraffs Empörungen bei RTL geradezu scheinheilig: Lohndumping, und das in Deutschland? Ach, nee. Arbeiten ohne Pause? Gähn. Die Konzerne wälzen ihr unternehmerisches Risiko auf den Einzelnen ab, weisen die Verantwortung von sich, und die Politik sieht einfach weg? Erzähl uns was Neues.
Aufmerksamkeit für ein rücksichtsloses System
Trotzdem ist Wallraffs Beispiel mit den Paketdiensten gut und richtig. Weil hier so viele Punkte zusammenkommen, die alle eigentlich unzulässig und doch so akzeptiert sind: Die übermäßige Belastung der Arbeitnehmer, die systematische finanzielle Ausbeutung der Scheinselbständigen, die fehlende Sorgfaltspflicht des Auftraggebers, das Ausbooten der Schwächsten im Unternehmen, das gezielte und aufgeforderte Austricksen von Aufsichtsbehörden, das Drängen unzähliger Subunternehmer in die Insolvenz, das Schikanieren, unter Druck setzen und Befehligen von Mitarbeitern, die auf dem Papier nicht weisungsgebunden, in der Praxis aber abhängig Beschäftigte sind.
Und die vielen psychisch, körperlich und/oder finanziell an den Abgrund getriebenen "Einzelfälle", die dieses System der rücksichtslosen Gewinnmaximierung auf Kosten der Mitarbeiter generiert: Es ist und bleibt unerhört. Es ist gut, dass Wallraff einmal mehr überdeutlich den Finger in die Wunde legt, und es wäre in der Tat wichtig, dass da endlich mal etwas passierte.
Das Problem liegt aber tiefer. Offenbar haben Kapitalismus und Konkurrenzdenken uns manchmal schon fester im Würgegriff als wir uns das einzugestehen in der Lage oder willens sind. Die an die RTL-Reportage angrenzende Stern-TV-Sendung etwa mit dem verdienten Wallraff, einem gut aufgelegten Vertreter von ver.di und zwar keinem GLS-, dafür aber einem allzu jovialen Hermes-Vertreter brachte es ans Licht: Am Ende war Moderator Steffen Hallaschka sauer, dass Wallraff nicht nur Werbung für RTL.de, sondern auch für das Zeit-Magazin machte, in dem an diesem Donnerstag die aktuelle Undercover-Story noch einmal ausführlich nachzulesen ist unter dem schönen Titel "Des anderen Last".
Als ob es unter diesen Bedingungen darauf ankäme, wer wann genau für welches Unternehmen welche Werbung macht. Hauptsache, die in der Runde zu Recht als unhaltbar eingestuften Verhältnisse ändern sich. Und je mehr Personen dazu über welche Kanäle auch immer aufgerüttelt werden, umso besser. Aber das ist dann wohl doch zu viel des Guten für RTL. Dabei hätte es an diesem Abend durchaus mal vorrangig um Inhalte und auch um gezielte Forderungen gehen können. Aber dazu müsste sich wohl zu viel ändern. Und wer will das schon - außer vielleicht Wallraff?