Reisebuch "Überland":Sommer der Hoffnung

Lesezeit: 4 Min.

"Es könnte eine Katastrophe werden": Moth und Raynor Winn auf dem Cape Wrath Trail. (Foto: privat)

Jahre nach ihrem "Salzpfad"-Abenteuer in Cornwall brechen die Extremwanderer Raynor Winn und ihr Mann Moth erneut zu einer Tour im Norden Schottlands auf.

Von Stefan Fischer

"Es könnte eine Katastrophe werden", sagt Moth zu seiner Frau. Das ist beiden nur zu bewusst. Der Cape Wrath Trail im Norden Schottlands gilt als der härteste und entlegenste Weitwanderweg in Großbritannien. Ihn zu gehen, "wäre verantwortungslos, irrational, egoistisch, unfair", schreibt die Autorin Raynor Winn in ihrem neuen Buch "Überland". Da ist diese Wanderung noch nicht viel mehr als eine vage Idee in ihrem Kopf. Und in dem von Moth. Das reden sich die beiden jedenfalls ein.

Tatsächlich handelt es sich, sobald sich der Gedanke an den Cape Wrath Trail in ihren Köpfen eingenistet hat, nicht um eine vage, sondern um eine sehr fixe Idee. "Ich zwinge dich nicht dazu", sagt Raynor zu ihrem Mann. "Doch, das tust du", entgegnet ihr Moth. Nicht, indem sie insistieren würde. Sondern schlicht dadurch, dass sie ihn getriggert hat mit diesem Trail, den er schon immer hat gehen wollen.

Nie hat es geklappt. Und jetzt scheint es zu spät zu sein dafür. In seinem gesundheitlichen Zustand könnte Moth diese Strapaze umbringen. Er weiß das. Seine Frau weiß das. Aber es gibt da diese zweite fixe Idee: Dass die Dinge sich womöglich bessern, so wie schon einmal.

Moth Winn an einem der sehr guten Tage, in einem Hawaiihemd, das er unbedingt haben musste. (Foto: privat)

Was Raynor und Moth Winn Jahre zuvor durchgemacht haben, wünscht man definitiv niemandem: Bei Moth wurde eine kortikobasale Degeneration diagnostiziert. Eine seltene Krankheit, nicht heilbar, mit scheinbar unumkehrbarem Verlauf, die zu Problemen mit der Motorik, der Artikulation, der Kognition und dem Schlucken führen kann, zu Sehstörungen, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche. Eine Krankheit, die definitiv zum Tod führt.

Wenige Tage nach dieser Diagnose die zweite Hiobsbotschaft für das Paar: Ein Mann, den sie für ihren Freund gehalten hatten, hatte sie schlecht beraten, vielleicht sogar betrogen, sodass sie ihr Haus verloren haben und obdachlos geworden sind. In ihrer Verzweiflung sind die beiden damals aufgebrochen, mit einem Zelt und einem letzten Rest Geld, den South West Coast Path an der Küste Cornwalls entlang. Diese Wanderung war körperlich eine Qual und vor allem auch seelisch - ein Kampf ums Überleben, ums Sich-nicht-Aufgeben, um die Würde.

Raynor Winn: Überland. Aus dem Englischen von Heide Horn, Christa Prummer-Lehmair und Rita Seuß. Dumont Reiseverlag, Ostfildern 2022. 352 Seiten, 17,95 Euro. (Foto: Dumont)

Diesen Weg gemeinsam gemeistert zu haben, hatte zwei wesentliche Folgen: Raynor Winn schrieb über dieses Erlebnis das Buch "Der Salzpfad", es wurde ein internationaler Bestseller und hat den beiden einen Neustart ermöglicht, inklusive des Kaufs eines neuen Hauses. Und die Wanderung hat wider alle Prognosen zu einer Verbesserung von Moth' Gesundheitszustand geführt.

Seither jedoch ist eingetreten, was die Ärzte verheißen haben: eine steter körperlicher Verfall. Moth ist 60 Jahre alt, als die Idee Besitz von ihm und seiner Frau ergreift, es doch noch zu probieren mit dem Cape Wrath Trail. Seit 14 Jahren lebt Moth mit seiner Krankheit, länger, als zu hoffen stand. Inzwischen jedoch kann er sich kaum noch auf den Beinen halten, stürzt immer wieder, auch hat er die Fähigkeit verloren, Entscheidungen zu treffen und Karten lesen zu können. Dabei sei er einmal richtig gut darin gewesen, eine Verbindung herzustellen zwischen einer Kompassnadel, einer Karte und der Landschaft. "Ich habe mich immer auf Moth' Fähigkeiten im Umgang mit Karte und Kompass verlassen", schreibt Raynor Winn. Aber jetzt ist es, "als hätte er eine Sprache verloren, eine Möglichkeit, die Landschaft als Ganzes zu begreifen und zu beschreiben".

Reisebuch
:Rückkehr ausgeschlossen

Ein britisches Ehepaar wird obdachlos und beginnt zu wandern: auf dem South West Coast Path, der 1000 Kilometer um die südwestliche Spitze Englands herumführt.

Von Stefan Fischer

Insofern: Ja, es könnte eine Katastrophe werden, unterwegs im Norden Schottlands, wo so schnell nicht auf Hilfe zu hoffen ist, wenn man sie benötigen sollte. Doch Moth schiebt noch einen Satz hinterher: "Zumindest gibt es dann nichts zu bereuen." Sie könne ihre Angst und ihre Zweifel nicht ganz abschütteln, bekennt Raynor Winn, als die beiden aufbrechen, im Mai des vergangenen Jahres war das, als in Großbritannien das öffentliche Leben stark eingeschränkt war aufgrund der Corona-Pandemie. Aber dieses Abenteuer würde sich nun einmal lebensnotwendig anfühlen. Für beide.

Das Wetter ist schlecht, der Kocher geht kaputt. Und doch marschieren sie weiter.

Die ersten Tage in Schottland verlaufen miserabel. Wenig klappt so, wie Raynor und Moth Winn es erwartet hatten, das Wetter ist denkbar schlecht, der Kocher geht kaputt. Und so sieht es mehrmals danach aus, als würde ihre Unternehmung scheitern, noch ehe sie richtig begonnen hat. Da hilft es auch nicht, dass sie einen Seeadler erspähen - es gibt nur noch rund 150 Brutpaare in Großbritannien. Ebenso erhebend ist, dass sich eines Morgens einige Rothirsche unmittelbar vor ihrem Zelt aufhalten, weil sie auf demselben Fleckchen Land Schutz gesucht haben vor einem starken Regen und einem anschwellenden Fluss.

Doch sie gehen weiter, Schritt für Schritt. Auch als sie den Cape Wrath Trail bewältigt haben. Sie suchen sich ein neues Ziel, um ihr Abenteuer fortsetzen zu können. Und dann noch eines und noch eines. Letztlich laufen sie zurück bis nach Cornwall. Das gelingt nur, weil eine Veränderung in Moth vorgeht, für die es in Ansätzen sogar eine medizinische Erklärung gibt: Viel Bewegung kann offenbar helfen, lindern, den Verfall verlangsamen. Nach den aktuellen Erkenntnissen über seine Krankheit ist ein Aufblühen, wie Moth Winn es widerfährt, offenbar jedoch eigentlich ausgeschlossen.

Raynor Winns Kunst ist es, empathisch von ihrem Abenteuer zu erzählen, von ihren Ängsten, Enttäuschungen und Hoffnungen und von ihrer tiefen Verbindung zu Moth, ohne darüber rührselig oder pathetisch zu werden. Und schon gar nicht in esoterische Muster abzugleiten. Sie und Moth finden einmal mehr Halt in dem, was sie ihr ganzes gemeinsames Leben schon zusammengeschweißt hat: zweisam in der Natur unterwegs zu sein, sich aufeinander verlassend, und jene magischen Augenblicke genießend, die sie entschädigen für die viele Mühsal auf solchen Wanderungen. Dass dies zum zweiten Mal unter Extrembedingungen gelingt, erfüllt die beiden mit einem immensen Glücksgefühl.

SZ PlusNach dem Attentat
:Er schenkt einem gerne Wunder

Salman Rushdie kennt immer die richtigen Zaubersprüche - gegen Verlegenheit, gegen Furcht, gegen Schreibkrisen. Er muss sein Leben in Sicherheit zurückbekommen.

Gastbeitrag von A. L. Kennedy

Eine zweite Erzählung läuft in "Überland" stetig neben der persönlichen Geschichte der beiden her: Sie handelt von dem Zustand, in dem sich Großbritannien befindet. Unentwegt begegnen sie Menschen, die den Eindruck haben, "die Agenda von Regierungen und Medien stimme nicht mit der ihren überein". Sie stoßen auf die Folgen von Gentrifizierung und spüren den Riss, den der Brexit in der Gesellschaft hinterlassen hat.

Und immer wieder treffen Raynor und Moth Winn Menschen, die maßloser Ehrgeiz und ein ungesunder Leistungsgedanke über die Fernwanderwege treibt. Das sind Momente, in denen Raynor Winn immer wieder über den Wert der Natur sinnt und wie gering geschätzt er inzwischen von einer großen Mehrheit werde. "Überland" ist schlussendlich vor allem auch ein Buch über die Frage, was Freiheit und Zufriedenheit bedeutet.

Die beiden haben beides gefunden. Und brauchen gar nicht jenen Rat, den sie mehrfach bekommen auf ihrer Durchquerung Großbritanniens von Norden nach Süden: Es gebe da nämlich ein sehr inspirierendes Buch, das sollten sie unbedingt lesen, über ein älteres Ehepaar, ganz wie sie beide eines sind, das sich nie hat unterkriegen lassen. "Der Salzpfad" heiße es.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusLukas Bärfuss: "Vaters Kiste"
:Was wollen wir hinterlassen?

Ein verpfuschtes Lebens voller Armut, Schulden und Kriminalität - zum ersten Mal schreibt der Schweizer Autor Lukas Bärfuss über seinen Vater. Sein Essay ist zugleich ein Leitfaden für das Denken in wirren Zeiten.

Von Kristina Maidt-Zinke

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: