TV-Kritik zu Maischberger:"Amokläufer sind nicht empathisch"

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Sandra Maischberger und ihre Gäste (v.l.): Britta Bannenberg (Kriminologin), Arbnor Segashi (Schwester starb bei Münchner Amoklauf), Gisela Mayer (Mutter eines Amok-Opfers) und Pascal Mauf (überlebte Erfurter Amoklauf). (Foto: WDR/Max Kohr)

Mit einem intensiven Themenabend über die Opfer der Amokläufe von Winnenden, Erfurt und München macht die ARD vieles richtig - doch am Ende bleibt Verwirrung.

TV-Kritik von Ruth Schneeberger

In München war besonders viel Verwirrung. Noch nie herrschte nach einem Amoklauf in Deutschland so viel Hysterie wie am 22. Juli 2016. Menschen in der Innenstadt geraten massenweise in Panik, die Polizei verkündet eine Terrorgefahr, die sozialen Netzwerke laufen heiß, die Medien überschlagen sich mit Live-Berichterstattung. Für all das gibt es im Nachhinein Erklärungen.

"Seit München haben wir eine andere Qualität"

Es gibt aber auch eine ungute Wahrheit, die dahintersteckt, und die lautet: "Seit München haben wir eine andere Qualität." Die Kriminologin Britta Bannenberg spricht sie am Mittwochabend in der ARD aus, zu Gast bei "Maischberger". Und sie erklärt, warum das so ist - aus Sicht des Täters.

Ob nun in München, Erfurt oder Winnenden: "Sie wollen mit der Tat berühmt werden - im negativen Sinne", so die Kriminologin, die seit zehn Jahren die Taten deutscher Amokläufer analysiert. Und sie räumt mit einer weit verbreiteten Spekulation auf, die vor allem nach München bis heute großen Raum einnimmt: der Vorstellung des Amokläufers als Mobbingopfer.

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So schwer es Außenstehenden falle, sich das vorzustellen, so Bannenberg, müsse man erkennen, dass diese Täter an Persönlichkeitsstörungen leiden, die alle dasselbe Muster aufweisen: Sie seien stark narzisstisch, egozentrisch, nicht empathisch, fühlten sich aber selbst ständig gekränkt und gedemütigt "von allem und jedem".

Irgendwann komme es zur Planung einer "großartigen Tat" als Selbstinszenierung, nach dem "Vorbild" bisheriger Amoktaten wie etwa in Columbine, USA. Auch die Terrorakte in Paris würden mittlerweile als Trigger dienen, genau wie andersrum Amokläufe Terrorakte triggerten. Je größer und spektakulärer, desto dienlicher und nachahmenswerter für die Täter. Und nun eben München. Die Medien trügen ihren Teil dazu bei, so Bannenberg.

Die Eltern sind nicht "schuld"

Die Kriminologin stellt noch etwas klar: Die Eltern von Amokläufern seien nicht schuld an dieser Persönlichkeitsstörung. Im Gegensatz zu anderen Gewaltverbrechen kämen Amokläufer meist aus unauffälligen, oft auch gut situierten Familien. Zwar nähmen die Täter auch in diesen Familien eine Außenseiterrolle ein, aber das liege weniger am Verhalten der Eltern als an den unempathischen Jungen selbst, die sich distanzieren, nicht am Essen teilnehmen, lieber am Computer spielen und sich nicht mitteilen. Auch Psychologen hätten ihre Mühe, eine solche Persönlichkeitsstörung zu erkennen. Am ehesten könnten Gleichaltrige und Mitschüler eine solche Tat verhindern - wenn sich Hinweise häuften, dass jemand etwas plant, wenn jemand eine Drohung äußere oder Sympathie für einen Amoklauf bekunde.

Es ist mutig von der ARD, die Expertin einzuladen. Denn sie widerspricht der These des Films "Die Stille danach", der zuvor zur besten Sendezeit gezeigt wurde . Darin wird sehr eindringlich der Fall einer Familie dargestellt, die daran zerbricht, dass ihr Sohn zum Amokläufer geworden ist, und die sich Vorwürfe macht, das nicht erkannt zu haben.

Allerdings ist der Sohn in diesem Film ein klassisches Mobbingopfer. Er verschont bei seinem Amoklauf die Lieblingslehrerin, weint bittere Tränen, als ihm das Mädchen über den Weg läuft, in das er heimlich verliebt ist - und er entschuldigt sich, bevor er sich selbst erschießt. "Die Darstellung im Film hat nichts mit der Realität gemeinsam", sagt die Kriminologin anschließend klar. Amokläufer seien während der Tat völlig unempathisch und eine Gefahr für jeden, der ihnen begegne.

Endlich der Blick auf die Opfer

Trotzdem ist dieser Abend in der ARD bei aller Verwirrung ein großer Schritt in Richtung Aufklärung. Denn so sehr es sich auch diesmal wieder um die Täter dreht: Bei Maischberger sitzen - außer der Kriminologin - echte Opfer. Und sie erzählen ebenfalls sehr eindringlich davon, wie sie die Taten in Erfurt, Winnenden und München erlebt haben.

Pascal Mauf etwa, der in Erfurt während seiner Abiturprüfung sah, wie seine Lehrerin erschossen wurde, vier Stunden lang mit Mitschülern auf Rettung warten und zwischendurch über erschossene Lehrer steigen musste. Heute sagt er: "Ich kannte Robert Steinhäuser, aber ich habe nichts gemerkt."

Gisela Mayer berichtet, sie habe damals stundenlang nicht fassen können, dass ihre 24-jährige Tochter Nina als Referendarin zu den Opfern in Winnenden gehörte, weil sie überhaupt nichts mit dem Täter zu tun hatte. Mayer wünscht sich, dass Angehörige in solchen Fällen anders betreut werden. Zwei Jahre habe sie damit vergeudet, nicht fassen zu können, dass ihre Tochter tatsächlich tot sei. Weil ihr das nie jemand konkret gesagt habe und sie damals nicht zu ihrem toten Kind gelassen wurde.

Schließlich erzählt Arbnor Segashi aus München seine Geschichte. Der Student hat vor knapp drei Monaten seine Schwester Armela bei dem Amoklauf im OEZ verloren. Verzweifelt sei er in dieser Nacht durch alle Krankenhäuser und Polizeistationen geirrt, habe nachgefragt, ob seine Schwester da sei; eine Suche nach Gewissheit, die erst am nächsten Morgen endete. Gerade hatte man ihm noch versichert, die Schwester sei auf keiner Todesliste zu finden. Da kommt er nach Hause - und wird von der Polizei empfangen. Diesen jungen Mann zu erleben, dieses Leid zu spüren, das dürfte vor dem Bildschirm kaum jemanden kalt gelassen haben. Niemanden, der nicht unempathisch ist.

Gestörtes Spiel um Aufmerksamkeit

Gisela Mayer ist nicht nur die Mutter der in Winnenden getöteten Referendarin, sondern auch selbst Psychologin. Zu ihr werden vom Jugendgericht inzwischen junge Männer geschickt, die auch bereits Amokläufe geplant haben. Nicht alle kann sie mit ihrer persönlichen Geschichte als Opfer noch erreichen. Sie gibt die Berichte darüber an die Gerichte weiter. Was dann aber damit passiere, wisse sie nicht, erzählt sie.

In diesem Moment endet die Sendung. Pinar Atalay verkündet als Ausblick auf die Tagesthemen, dass der Terrorverdächtige von Chemnitz sich in seiner Zelle erhängt habe. Moderatorin Sandra Maischberger ist daraufhin so irritiert, dass sie nicht mal mehr die Zuschaueradresse richtig durchgeben kann für ihre nächste Sendung in drei Wochen. Schon wieder ein junger Mann, der für größtmögliche Verstörung sorgt.

Die Verwirrung hält an - wenn wir alle das Dilemma im Zusammenhang mit Attentaten und Aufmerksamkeit nicht besser in den Griff bekommen. Die Politik mit ihrer Verantwortung für die Waffengesetze, die Medien mit ihrer Verantwortung für das Inszenieren großer Spektakel, die Schulen mit ihrer Verantwortung für das Erkennen psychischer Probleme, die Eltern mit ihrer Verantwortung für das Beachten von Alarmzeichen, die Mitschüler mit ihrer Verantwortung für das Mitdenken.

Wer aber hat Schuld? Am Ende ist es der Täter.

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