Um sechs Uhr morgens klopfte es an der Tür des 72-jährigen Şahin Alpay. Die Polizei war gekommen, um ihn festzunehmen. Zwei Stunden lang durchsuchte sie dann die Wohnung von ihm und seiner Frau. Während der Festnahme sagte Alpay: "Ich weiß nicht, warum man mich mitnimmt. Ich kann dazu nichts sagen."
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Jörg Häntzschel.
Alpays Name stand auf einer neuen Liste mit diesmal 47 Journalisten, für die Haftbefehle ausgestellt wurden. Darunter sind Autoren, Reporter und Redakteure, die früher für die Tageszeitung Zaman arbeiteten, die im vergangenen März von den Behörden geschlossen wurde. Der Zeitung wird vorgeworfen, der "mediale Ableger der Terrororganisation der Fethulla-Gülen-Anhänger" (Fetö) zu sein.
Alpay ist seit Jahrzehnten eine der verlässlichsten und stärksten liberalen Stimmen in der Türkei. Er ist in Europas politischen Kreisen gut bekannt. Auch bei deutschen Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen ist er angesehen. Er war jahrelang an Projekten der Friedrich-Ebert- und der Friedrich-Naumann-Stiftung beteiligt. Bis vor Kurzem lehrte er Politikwissenschaft an der Bahçeşehir-Universität und schrieb Zeitungskolumnen.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)
Auf der Liste finden sich auch Leute wie Hilmi Yavuz, ein 80-jähriger Dichter, Philosoph und Literaturkritiker, der ebenfalls international bekannt ist; der brillante liberale Politologe İhsan Daği oder der Theologe Ali Bulaç. Und dann sind da die Journalisten: Lale Kemal, eine hervorragende Militärexpertin, Nuriye Akman, die bekannt ist für ihre Interviews; oder Bülent Keneş, frühere Chefredakteurin von Zaman.
Es gibt keinen Zweifel, dass diese zweite Welle von Massenverhaftungen, die einem Generalangriff auf die Presse gleichkommen, weitergehen wird. In der ersten Phase verhaftete man Reporter ohne Rücksicht auf ihre Arbeitgeber. Dem folgten gezielte Festnahmen kritischer Denker bei einzelnen Zeitungen. Nun ist in den sozialen Netzen von Anzeichen für weitere Aktionen in den nächsten Tagen die Rede.
Die Lage könnte also ernster nicht sein. Seit dem blutigen Putschversuch hat der Staat Angriffe auf kritische Intellektuelle zur obersten Priorität gemacht - genau wie 1980 beim Staatsstreich durch das Militär. Damals brandmarkte man die Betroffenen als "Kommunisten", heute als "Gülenisten". Die Vorwürfe gegen Nazlı Ilıcak, eine 71-jährigen Journalistin, die der gemäßigten Rechten zuzuordnen ist, sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Ihre Anwälte sagen, sie würde beschuldigt, "die Medienpräsenz der Fetö aufzubauen". Das bedeutet heute lebenslange Haft.
Jetzt, da in der Türkei sowohl linke, als auch rechte Liberale Opfer der Hexenjagd werden, ist unübersehbar, dass der Ausnahmezustand einem von Erdoğan angezettelten Gegenputsch den Weg bereitet. Oder, wie es der Journalist Hasan Cemal, ein enger Freund von Alpay und Ilıcak, nennt, einem "zivilen Staatsstreich".
Anm. d. Red: Kurz nachdem diese Folge des "Türkischen Tagebuchs" veröffentlicht wurde, ordnete die Regierung in Istanbul die Schließung von 45 Zeitungen und 16 TV-Sendern an - mehr dazu lesen Sie hier.