Die Vorfälle lesen sich wie Szenen aus einer dunklen Vergangenheit. Oktober 2015, der Tagesspiegel-Kolumnist Helmut Schümann spaziert durch seine Nachbarschaft in Berlin-Charlottenburg. Plötzlich ruft jemand: "Schümann, du linke Drecksau". Es folgt ein Schlag, der Kolumnist stürzt, der Angreifer flieht.
Oder diese Geschichte, aus dem April: Zwei freie Journalisten filmen in der Nähe des Grundstücks von NPD-Mitglied Thorsten Heise. Daraufhin werden sie von zwei maskierten Männern verfolgt, die sie mit ihrem Wagen erst von der Straße abdrängen und dann mit Schraubenschlüssel und Messer angreifen.
Das sind nur zwei der mehr als 80 Fälle, die das European Centre for Press & Media Freedom (ECPMF) in Leipzig in den vergangenen Jahren gesammelt und in einer Liste mit politisch motivierten gewalttätigen Übergriffen gegen Journalistinnen und Journalisten in Deutschland kategorisiert hat. Die aktuellste Version dieser Liste finden sich im Anhang des Reports "Feindbild ,Lügenpresse'", den das ECPMF am Donnerstag zum dritten Mal seit 2016 veröffentlicht hat. Dieser Report kommt zu einem düsteren Schluss: Die Gewalt gegen Journalisten nimmt derzeit wieder zu.
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Allein in den ersten achteinhalb Monaten des Jahres 2018, so heißt es gleich zu Beginn, habe das ECPMF mindestens 22 tätliche Übergriffe registriert und überprüft. Ein deutlicher Anstieg, 2017 zählte das ECPMF fünf Vorfälle, 2016 waren es 19. Nur 2015 waren es bislang noch mehr: 43 Angriffe tauchen auf der Liste des ECPMF auf. Der Gewaltpegel gegen Journalisten, das schreiben die Politikwissenschaftlerin Pauline Betche und der Journalist Martin Hoffmann in ihrer Studie, sei so hoch wie seit 2015 nicht mehr.
Wie angespannt die Lage ist, zeigt auch, dass sich der Deutsche Presserat am Donnerstag gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Innenministerkonferenz in die Debatte eingeschaltet hat mit der Forderung, die Polizei müsse Journalisten besser schützen. "Die Pressefreiheit gilt immer und überall. Die Polizei sollte Journalisten, wenn es die Lage erforderlich macht, bei Ausübung ihres Berufs schützen, denn ihre Arbeit ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie", ließ sich Holger Stahlknecht, Innenminister von Sachsen-Anhalt, zitieren. Er werde die Verhaltensgrundsätze für Medien und Polizei bundesweit wieder stärker "in das Bewusstsein der Beamten rücken".
Die Autoren der EPCMF-Studie stellen fest, der Begriff "Lügenpresse" habe die Hemmschwelle zur Gewalt gegen Journalisten deutlich herabgesetzt. Zu ihren Erkenntnissen gibt es allerdings ein paar Einschränkungen. Zur Erfassung der Fälle stützt sich das ECPMF auf Medienberichte, Video- und Bildmaterial sowie Polizeiberichte. Die Dunkelziffer kann demnach hoch sein, es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit, das schreiben die Autoren selbst. Außerdem werden Daten zur Gewalt gegen Journalisten in Deutschland erst seit wenigen Jahren erhoben. Das ECPMF begann 2015. Davor, das sagt auch die Organisation Reporter ohne Grenzen, habe es einfach zu wenige Fälle gegeben. Auch das Bundeskriminalamt führt erst seit Januar 2016 eine Statistik über Angriffe gegen Journalisten. Die Zahlen mögen jeweils variieren, aber die Tendenz ist eindeutig: 2015 und 2018 kam es vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen.
Die Studie des ECPMF identifiziert dafür eindeutige Gründe. 2015 und 2018 gab es mehr Demonstrationen und Aufmärsche des rechten Spektrums als in den Jahren dazwischen. Die These: Dort, wo Rechte marschieren, werden Journalisten angegriffen. Die Daten bestätigen das, nur zwei von 27 Übergriffen in den vergangenen beiden Jahren waren laut ECPMF politisch links motiviert. Allein beim "Trauermarsch" in Chemnitz am 1. September wurden neun Angriffe auf Journalisten erfasst. Seien es früher vor allem Neonazis gewesen, die Journalisten bedrohten und angriffen, zeigten heute mehr und mehr Menschen aus dem bürgerlichen Milieu Gewaltbereitschaft, heißt es im Report. Belegen lässt sich das nur schwer. Die Berichte von geschlagenen Journalisten aber deuten in diese Richtung.