Lanz' Jahresrückblick:Aua, aua, aua

Lesezeit: 3 min

Markus Lanz' Jahresrückblick bildet den Startschuss der insgesamt acht Jahres-Rückschauen, die allein das ZDF ausstrahlt. (Foto: Markus Hertrich/ZDF)

"Die Welt ist ein Problem": Gnadenlos rechnet Markus Lanz mit diesem Elend namens 2021 ab. Er sucht Verantwortliche und Schuldige. Und befragt als Zeugen die fies-traurigen Emotionen.

Von Marlene Knobloch

Es ist so viel los, man braucht gar nicht zurückblicken. Heute ist das neue Gestern. Statt monateweit Richtung Januar oder Februar auszuholen, greift der immer agile Markus Lanz bei seiner Schau auf das Jahr 2021 die jüngste Schreckensmeldung des Tages auf: den Impfstoffmangel. Das passt gut ins Konzept, einer Chronologie des Elends. Dramaturgisch so geordnet, dass selbst die Übel, die man in einem evolutionär-psychologisch absolut verständlichen Verdrängungsprozess vielleicht dem Jahr 2020 zuschusterte, vor die Untersuchungskommission ins Hamburger Studio geschleift werden.

Nein, all das haben wir 2021 zu verdanken, lässt Markus Lanz wissen und zitiert etwa fünf Mal den bayerischen Ministerpräsidenten Söder, dem damit, warum auch immer, die letzte Instanz zuteilwird: "Das war ein verrücktes Jahr, das war ein schweres Jahr." Ob Ahrtal oder Afghanistan: Lanz will die Akte 2021 nicht schließen, ohne ein letztes Mal nach Schuldigen und Zeugen zu suchen: die fies-traurigen Emotionen. Aua.

SZ PlusFehlerkultur
:Ganz großes Sorry

Kimmich, Lauterbach, wir alle: Das Leben gibt es nicht ohne den Irrtum. Wie damit umgehen? Ein paar (hoffentlich richtige) Gedanken zu moderner Fehlerkultur.

Von Cornelius Pollmer

Wer hätte gedacht, dass in einer Talkshow der sorgenvolle Dauer-Warner Karl Lauterbach der Zuversichtlichste in der Runde sein würde? Neben Markus Söder, der gegen die "kontraproduktiven" Empfehlungen der Stiko austeilt ("das ist kein Vorwurf") und über den Bayernmangel im neuen Kabinett mault, neben der Ethikrat-Vorsitzenden Alena Buyx, dem Intensiv-Krankenpfleger Ralf Berning und der restlichen Sendung, wirkt der frisch gebackene Gesundheitsminister wie ein energetisches Leuchtfeuer.

"So wie ich gestrickt bin, habe ich erst mal alle an einen großen, an einen sehr großen Tisch gesetzt", verkündet Lauterbach auf die Frage, was er jetzt vorhabe, um dann ausgiebig, sehr ausgiebig die wöchentlichen Rationen Moderna und Biontech vorzurechnen. Fazit: "Für eine offensive Booster-Kampagne, wie wir sie zurzeit fahren, reicht der Impfstoff nicht aus." Er versuche jetzt, notfallmäßig Impfstoff zurückzukaufen. Immerhin liefert er Ampel-Gossip aus der Koalition: Finanzminister Lindner habe seine Bestellsumme bewilligt.

"Wir wollten eigentlich einen schönen Jahresrückblick machen"

Lanz, dessen rote Krawatte tröstlich festlich glänzt, beteuert, "wir wollten eigentlich einen schönen Jahresrückblick machen", aber dann, Sie wissen ja, vierte Welle, Kleeblatt-Verlegung, Impfstoffmangel. Er lässt, um ein "Gefühl" dafür zu bekommen, den Intensivpfleger Berning erzählen, wie schnell intubierte Covid-Patienten sterben, wie sie im Großraum Bielefeld nur noch ein einziges Bett frei hatten. Fazit: "Knüppelhart".

Dann wird es intim. Lanz schickt alle aus dem Raum außer Markus Söder, der pandemiestiltreu zugeschaltet ist, diesmal mit den zwei Türmen der Münchner Frauenkirche im Rücken. Nach einem Einspieler über die Historie der K-Frage in der CDU, nach Überwachungskamerabildern von Laschet und Söder auf der Klausurtagung, nach einem Best-of der Söder-Sticheleien ("Ich hab keine Lust auf Opposition", "nicht mit dem Schlafwagen ins Kanzleramt", "am Ende wollten sie einen anderen Kanzlerkandidaten"), reibt sich Lanz die Hände: Was wäre, wenn er jetzt Kanzler wäre? Für den Manövrier-Künstler Söder natürlich leichtes Geäst: "Ich bin generell ein Mensch, der schaut nach vorne."

Nach dem fränkisch-weichen Granit bohrt Lanz beim nächsten Thema nach Emotionen. 6. Januar, Sturm aufs Kapitol. Bilder einer rot-weiß-blauen Meute, Fellmütze, Hörner. Der Augenzeuge und US-Polizist Michael Fanone sitzt jetzt auf Karl Lauterbachs Stuhl und bezeugt erst mal politische Theorien, in denen Lanz freudig wühlt ("Da sind Spuren bis ins Weiße Haus!"), dass "eine Art Organisation" stattgefunden haben muss.

Dann will Lanz wissen, wie das für ihn war, als ihn ein wütender Mob die Treppen runterstieß, er einen Herzinfarkt erlitt und um sein Leben bettelte: "Ich habe Kinder!" Was fühlte er da, wann genau hatte er den Herzinfarkt, wie war das für ihn, dass seine Tochter zuerst aus den Medien von seinem Schicksal erfuhr?

Lanz' Resümee: So ein Jahresrückblick richte ein Schlaglicht "auf diese traurige Welt"

Spätestens hier ist klar, dass Lanz zwei Missionen verfolgt: Eine Aufarbeitung dieses Katastrophenjahres samt Verantwortlichen. Und eine schmerzhafte Gefühlsrevue, für die der Talkmaster meistens nicht viel tun muss. Der Brigadegeneral Jens Arlt, der bei der Evakuierung in Afghanistan dabei war, erzählt von verzweifelten Menschen, die Kinder benutzten, um in den Flughafen zu gelangen, und sie im Anschluss einfach auf den Boden oder in Abflusskanäle warfen.

Und als die ehemalige afghanische Kommunalpolitikerin Zarifa Ghafari davon spricht, dass sich die Situation in ihrem Heimatland "jeden Tag verschlechtert", Menschen hingerichtet werden und sich vor zwei Tagen ein Mann vor den Augen seiner Kinder vor einen Lkw geworfen hat, bleibt Lanz kein anderes Resümee, als dass so ein Jahresrückblick immerhin ein Schlaglicht "auf diese traurige Welt" richte.

Die Sendung endet mit zerstörten Fachwerkdörfern, Abbruchkanten, schwimmenden Autos. Vor den Flutbildern aus dem Ahrtal darf der Wissenschaftsjournalist und "Terra X"-Moderator Dirk Steffens einen letzten Appell sprechen: "Die Welt ist ein Problem. Wir müssen schwierige Sachen angehen. Und das tut auch weh."

Den letzten Grabgesang lässt sich Lanz damit aber nicht nehmen und zitiert noch mal aus dem jüngsten Buche Söder: "Das war ein verrücktes Jahr, das war ein schweres Jahr." Lanz' Jahresrückblick bildet den Startschuss der insgesamt acht Jahresrückschauen, die allein das ZDF ausstrahlt. Es bleibt die irre Hoffnung, dass eine Ausgabe von Jürgen von der Lippe oder zumindest der Honigkuchenbande moderiert wird. Die restlichen Türchen des Adventskalenders hat man schon verzweifelt eingetreten. Die von 2022 vorsorglich auch. Denn angesichts künftiger Vergangenheitsprobleme samt wiederkehrender Virus- und Flut-Wellen: Morgen war das neue Heute.

Marlene Knobloch ist streamende Autorin, träumt aber von Fernsehern in Küche und Schlafzimmer. Jeden Sonntag könnte sie dann linear zu den Kommen-Sie-gut-in-die-Woche-Wünschen der Nachtmagazin-Moderatoren mit Tausenden Zuschauern in Deutschland wegdösen. Bis dahin schaut sie beim Kartoffelschälen alte Harald-Schmidt-Folgen auf ihrem Laptop. (Foto: Illustration: Bernd Schifferdecker)
© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusEnglisch mit Akzent
:Baerbocks falsche Reibelaute

Wenn es um englische Aussprache geht, sind die Deutschen die gnadenlosesten Sprachpolizisten überhaupt. Das bekam zuletzt auch die neue Außenministerin zu spüren.

Von Alexander Menden

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: