Neulich hat sich Fritz Pleitgen wieder einmal zu Wort gemeldet. Pleitgen ist jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr Intendant des Westdeutschen Rundfunks, doch die Tagesschau hat er immer noch fest im Blick.
Journalist Pleitgen war aufgefallen, dass sich die Hauptnachrichtensendung der ARD zunehmend mit deutschen Themen beschäftige und das Weltgeschehen zweitklassig abhandele. Das halte er, sagte der 73-Jährige, für bedenklich: "Deutschland als Nabel der Welt, das geht auf Dauer ins Grundwasser des politischen Bewusstseins."
Veränderungen im Grundwasser der ARD sind nicht nur bei der Tagesschau feststellbar. Auch die Berichterstattung von der Fußball-Europameisterschaft zeigt, dass sich das Erste vor allem sehr um Befindlichkeiten der deutschen Nationalelf kümmert.
Wer am Dienstagabend dieser Woche von der Tagesschau um 20 Uhr bis Waldis Club eine halbe Stunde vor Mitternacht die Übertragung des letzten Vorrundenspieltages aushielt, wurde mit den handelsüblichen Banalitäten von der - auch noch spielfreien - Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) versorgt. Die Bebilderung des Nachmittages in Danzig - Spieler bei einem Stadtbummel - bestückte die Tagesschau genauso wie später die Übertragungsstrecke, die von Moderator Reinhold Beckmann und Experte Mehmet Scholl begradigt werden sollte.
Dass es immer dieselben Bilder waren, die zu vorgerückter Stunde vorbeizogen, später noch ergänzt um ein Gespräch mit Nationalverteidiger Holger Badstuber und um an der Tischtennisplatte im DFB-Quartier tätigen Teamkollegen, wäre ja überhaupt nicht so unangenehm aufgefallen, hätte die ARD ein an diesem Tag angemessenes journalistisches Konzept für ihre Live-Sendung gehabt.
Es war der Tag, an dem sich eine Redaktion sogar auf das hätte vorbereiten können, was sich dann abends im Match Ukraine gegen England wiederholte und die Europameisterschaft mehr prägte als jedes Ergebnis, jedes Tor der Gruppenphase: die Leistung und der Sinn von Torschiedsrichtern, die den Ausgang des Turniers jetzt maßgeblich beeinflusst haben.
Man muss als Zuschauer kein Experte sein wie Oliver Kahn (ZDF) oder Mehmet Scholl, um Absurdität und Bedeutung der Situationen zu begreifen. Montagabend wurden den Kroaten im Kampf gegen die Spanier zwei Elfmeter verweigert, wobei sich das eine Foul ungefähr einen Meter vor dem Torschiedsrichter zutrug und an Brutalität kaum zu überbieten war. Dienstagabend ignorierte der Torschiedsrichter einen Treffer der Ukraine. Auch er war nachweislich der Fernsehbilder optimal postiert.
Kuriositäten der EM-Vorrunde:Schollismus, kurze Hosen und gemobbte Griechen
TV-Experten kreieren neue Trends zur Spielermotivation, Spielerfreundin Lena Gercke trägt noch kürzere Hosen als Nicklas Bendtner, der Grieche Giorgos Karagounis wird vom Schiedsrichter gemobbt. Und der VfL Wolfsburg? Entscheidet die Europameisterschaft.
Kroaten und Ukrainer schieden aus. Und weil die Kroaten bereits Montagabend Tod und Teufel schimpften und niemand ihnen widersprechen konnte, hätte man in der ARD im Vorlauf zu den Spielen von Dienstag und erst Recht im Nachlauf der beinahe skandalösen Benachteiligung des ukrainischen Ensembles, Gastgeber der EM immerhin, gerne auch ein paar andere Experten als Mehmet Scholl gehört (und Scholl vermutlich auch): Verantwortliche der Uefa zum Beispiel, die den Einsatz der Torschiedsrichter beschlossen haben, oder Vertreter der Auffassung, dass es den Bildbeweis zumindest bei der Frage: Tor oder Nicht-Tor?, geben müsse.
Der Regelexperte reist ab
Ist es so schwer, einen Gast zu diesem Thema zu bekommen, eine Zuschaltung einzurichten, Interviews zu führen für einen Beitrag zum fußballpolitisch wichtigen Konflikt? Sieht man nicht ausreichend Fußballprominenz und -excellence auf den Tribünen? Zumal im Fall der Kroaten die Verursacher auch noch deutsche Schiedsrichter waren. Und warum wurde die ARD-Fachkraft fürs Regelwerk, Hellmut Krug, nicht ins Studio geholt? Der frühere Bundesliga-, EM- und WM-Schiedsrichter wird an diesem Mittwoch vorzeitig abreisen. Dass ihn die ARD in der brisanten Lage nicht auftreten ließ, hat ihn offenbar verärgert. Es ist tatsächlich unverständlich, aber bezeichnend. Wäre die deutsche Elf betroffen, hätte es sicher viele Meinungen, Zuschaltungen, Interviews, Gäste gegeben, und bestimmt wäre einer Krug gewesen.
Allerdings waren auch die Deutschen einmal betroffen: in ihrem entscheidenden Gruppenspiel gegen Dänemark. Kurz vor Ende, als den Dänen ein Tor hätte genügen können, um statt der DFB-Elf ins Viertelfinale vorzudringen, zeigte sich der spanische Referee großzügig und pfiff den Elfmeter nicht, den es gegen Deutschland hätte geben müssen. Auch darüber ist das Erste schweigend hinweggesprungen, den gefährlichen Moment hat der Jubel über den Siegtreffer Lars Benders verdrängt.
Dem Charakter eines internationalen Turniers entspricht die Leistung der öffentlich-rechtlichen Sender bisher nicht. Man hat den Eindruck, dass die Form den Inhalt dominiert. Zu den Standards zählen das Tagesprotokoll aus dem deutschen Lager, eine EM-Kolumne fürs Gemüt, gehetzte Aufsager der ARD- oder ZDF-Korrespondenten in Polen und der Ukraine, die auch die politische und gesellschaftliche Lage in beiden Ländern zuweilen streifen. Es werden Info-Schnipsel über die Teams angefertigt, die anschließend spielen. Im Nachlauf am Dienstagabend brachte die ARD das Video eines deutschen Rap-Songs zur EM unter, es passte gut ins Bild. Was dann Moderator und Experte zu erkunden versuchen, wird nach dem Abpfiff von Sekundenfrageantwort-Einblendungen aus der Mixed-Zone unterbrochen - wenigstens ist das eine direkte Begegnung mit Spielern und Trainern anderer Nationalteams.
Das Gefühl, bei ARD und ZDF gut grundversorgt zu sein, hat man nur bei der deutschen Mannschaft. Das ZDF hat sich auf Distanz gebracht mit seiner Wahl, die EM von der fernen Insel Usedom aus zu beobachten. Es fehlt die Bindung - so sehr sich Oliver Kahn auch bemüht, die EM analytisch zu fassen. Dass er manchmal wie ein Fußballbörsianer wirkt, gibt ihm wenigstens eine individuelle Note. Doch was lernt man über Charkow, Donezk, Lemberg, Warschau, Breslau, Kiew, Posen, über Danzig und was über die Menschen, die dort leben. ARD und ZDF bleiben Fremde.
Zwar ist die ARD in den Stadien, scheint aber in ihnen eingeschlossen zu sein, embedded. Und meistens, das ist besonders auffällig, soll das, was im Ersten zur EM gesagt und gezeigt wird, locker, irgendwie ironisch klingen, nicht ganz so ernst eben. Tatsächlich klingt das aber inzwischen eher nach Wok-EM statt nach Fußball-EM. Und das liegt nicht nur an Matthias Opdenhövel, der früher einmal die von Stefan Raab erfundene Wok-WM moderierte.