Die Schilderungen differieren, was Tonlage und Hintergründe angeht, aber über eines sind sich alle Beteiligten einig: Dies war eine selbst für die heiligen Hallen von Downing Street ungewohnte Konfrontation. Weil nur ein Teil der anwesenden Journalisten zu einem Briefing mit dem britischen Chef der in "Taskforce Europe" umbenannten Brexit-Verhandlungsgruppe vorgelassen werden sollte, verließen nach einem handfesten Streit mit dem Kommunikationschef der Regierung, Lee Cain, alle Reporter die Regierungszentrale. Unter denen, die aus Protest gingen, waren prominente Gesichter wie Laura Kuenssberg von der BBC und Robert Peston von ITV, aber auch Politikredakteure von Guardian und Times.
Berichterstatter mussten sich auf zwei Seiten des Flurs aufstellen. Nur eine Gruppe durfte bleiben
Mitarbeiter der Pressestelle hatten zuvor die Berichterstatter in zwei Gruppen aufgeteilt, die sich auf zwei Seiten eines Korridors aufstellen mussten: Eine Gruppe sollte bleiben, die andere wurde angewiesen, umgehend den Ort des Geschehens zu verlassen. Man behalte sich vor, wen man wann informiere, soll Cain nach Medienberichten gesagt haben. Das sei absolut üblich, erklärte er, zudem habe es bereits ein Briefing für eine größere Gruppe gegeben. Die Aufspaltung sei nicht politisch motiviert.
Post-Brexit-Verhandlungen:Johnsons Witze, Brüssels Wahrheiten
Bestens gelaunt präsentiert der Premier Großbritannien als selbstbewusstes Land. EU-Chefunterhändler Barnier macht indessen sehr konkret klar, dass die Union London eine Menge abverlangen wird.
Der Fall erinnerte britische Journalisten stark an den eskalierenden Streit zwischen US-Medien und dem Weißen Haus. Als etwa die Trump-Administration dem CNN-Reporter Jim Acosta die Akkreditierung entzog, rief dieser Kollegen zur Solidarisierung auf - mit geringem Erfolg. Mittlerweile veranstaltet das Weiße Haus gar keine Briefings mehr.
In London war dies bereits die zweite Pressekonferenz in einer Woche, zu der die Regierung selektiv einlud. Die im Parlament akkreditierten britischen Politikjournalisten, "Lobby" genannt, sind ein exklusiver Kreis; sie wurden bisher regelmäßig in einer Westminster-Lobby von Pressesprechern gebrieft. Kürzlich hatte die Johnson-Regierung diese Briefings nach Whitehall verlegt. Der Verlegerverband protestierte schriftlich gegen neue Regeln, die es vor allem Kollegen kleinerer Zeitungen erschwerten, ihre Arbeit zu machen. Downing Street argumentierte am Montag, man unterscheide zwischen einer allgemeinen und einer "Inner Lobby", zu dieser zählten Spezialisten für relevante Themen.
Im Regierungsviertel war der Zusammenprall in Number 10 natürlich das Gesprächsthema. Selbst der sonst nie um Worte verlegene Minister Michael Gove, der - wie viele Kabinettsmitglieder einschließlich des Premierministers - mal Journalist war, rang am nächsten Morgen um Worte. Ob er auch gegangen wäre als einer, der doch immer den Schutz von Presse- und Informationsfreiheit fordere? Und ob seine Frau Sarah Vine, Brexit-begeisterte Kolumnistin bei der Daily Mail, sich solidarisiert hätte, fragte ein BBC-Reporter. Er urteile nie über Ereignisse, bei denen er nicht selbst anwesend gewesen sei, antwortete Gove. Für Politiker, die selten bei Ereignissen anwesend sind, aus denen sie später politische Konsequenzen ziehen, war das eine etwas seltsame Ausrede.
Die Konfrontation hatte natürlich einen langen Vorlauf. Der Premierminister geriet schon während des Wahlkampfs immer wieder in Auseinandersetzungen mit britischen Medien. Einem als besonders scharf geltenden Interviewer der BBC verweigerte er, anders als die Mitbewerber, ein Gespräch, und kurz vor dem Wahltag versteckte er sich während eines Firmenbesuchs zur Gaudi der Zuschauer vor laufenden Kameras sogar in einem Kühlschrank.
Offenbar wird überprüft, ob in Restaurants Mitarbeiter der Ministerien mit der Presse reden
Schwerer wiegen strukturelle Veränderungen: Das Kabinett hat Order, nicht mehr in bestimmte, als besonders kritisch geltende Sendungen zu gehen. Seine "Rede an die Nation" ließ Johnson vor der Ausstrahlung in der Brexit-Nacht von einem Team aus der Downing Street aufzeichnen. BBC und ITV weigerten sich daraufhin, die Rede auszustrahlen - ein erster Hinweis auf eine kleine Revolution, die sich im Verhältnis zwischen Medien und Politik im Königreich anzubahnen scheint.
Die Sunday Times berichtet derweil unter Berufung auf eine Reihe von Quellen, dass der Chefberater des Premiers, Dominic Cummings, Ministeriumsmitarbeitern verboten habe, mit Journalisten zu sprechen. Er habe sogar Restaurants rund um Westminster kontaktiert und sie aufgefordert, Treffen zwischen Journalisten und Regierungsmitarbeitern zu melden. Times-Kolumnist Matt Chorley zitiert Wirte mit der verärgerten Reaktion, sie seien nicht beim Geheimdienst; außerdem sei das ein Bruch mit dem Datenschutz. Jedem, der sich zum Lunch mit einem Reporter treffe und das nicht beim Arbeitgeber selbst melde, drohen derweil disziplinarische Konsequenzen. Chorley dazu wütend: Es sei offenbar in Mode, traditionelle Medien zu bestrafen, gegeneinander auszuspielen oder gleich ganz zu ignorieren. "Natürlich kann eine Regierung auch beschließen, dass Journalisten nicht zählen. Aber jemand sollte Cummings mal sagen, dass immer noch sechs Millionen Zeitungen mit einer Reichweite von 39 Millionen Lesern in diesem Land erscheinen."
Die Generalsekretärin des Journalistenverbandes, Michelle Stanistreet, kritisierte das Vorgehen der Regierung scharf: "Minister boykottieren Programme, Pressekonferenzen sind nur noch für ausgewählte Medien - das ist gefährlich." Johnson müsse die Paranoia stoppen.
Die neue Politik der Abschottung trifft aber nicht nur missliebige Reporter. Bei Johnsons Rede zur globalen Rolle Großbritanniens am Montag waren zwar Unternehmer, Botschafter und andere wichtige Menschen geladen, aber nicht Vertreter von drei großen Wirtschaftsverbänden, darunter Handelskammer und Industriellenverband. Sie sollen zur Verärgerung von Johnson immer noch zu Brexit-kritisch sein.