Videos der Explosionen in Beirut:Geteilte Angst

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Wie umgehen mit den Bildern? Über den Wohnhäusern Beiruts hängt nach einer Explosion eine Rauchwolke. (Foto: Hassan Ammar/dpa)

Die Bilder aus Beirut sind allgegenwärtig in den sozialen Medien - und erinnern daran, dass Nutzern eine besondere Verantwortung zukommt.

Von Dirk von Gehlen

Was verstören wird, kann man nicht immer sofort erkennen. Ein Spaziergang durch die Münchner Innenstadt. Hier verkaufen die örtlichen Zeitungen ihre Ausgaben in sogenannten stummen Verkäufern: Plastikkästen mit Schlagzeilen, die zum Kauf anregen sollen. Eine Grundschülerin bleibt stehen und liest: "Gruseliges Rätsel um Leichenfund im Eisbach". Nach wenigen Schritten fragt sie: "Papa, was ist am Eisbach passiert?" Im Kopf der Grundschülerin entstehen jetzt Bilder, über die sie sprechen will. Warum schreit der stumme Verkäufer so laut? Woher wissen die das? Ist es gefährlich am Eisbach?

Medienkompetenz beginnt genau hier.

Menschen sortieren ihre Welt im Dialog, im Austausch mit anderen. Wer spricht, fühlt sich weniger allein in der Angst. Da geht es der Grundschülerin, die durch die Stadt spaziert, nicht anders als dem Oberstudienrat, der im Internet surft. Nur werden im Web solche Gespräche unter anderen Bedingungen geführt. Was dort aktuell viele verstört, war eine Explosion. In der libanesischen Hauptstadt Beirut starben mindestens 100 Menschen. Mehr als 4000 wurden verletzt, als es in einem schon brennenden Gebäude zu einer gewaltigen Detonation kam.

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Die Katastrophenbilder von Zerstörung, Leichen und Rauchschwaden, die im Kopf entstehen, wenn man diese Worte liest, werden im Web potenziert durch Amateurvideos und jene von professionellen TV-Teams, die die tatsächliche Explosion zeigen. Wie geht man mit diesen Bildern um? Muss man sich von einem Video zum nächsten klicken? Muss man das Geschehen wirklich aus diversen Perspektiven erleben? Und muss man das alles seinen Followern präsentieren? Die Gefahr ist schließlich groß, dass im Ringen um Aufmerksamkeit, um das noch spektakulärere Video auch Fragwürdiges gepostet und geteilt wird: Bilder von Verletzten zum Beispiel. Oder Bilder von Toten.

Das stellt den Nutzer vor die Herausforderung, selbst zu filtern, was er oder sie verträgt, während quasi in Echtzeit immer neue Videos auftauchen. Ein neuer Impuls, ein zusätzlicher Reiz.

Zudem besteht vor allem auf Youtube die Tendenz, bereits nach wenigen empfohlenen Videos tiefer in den emotionalen Strudel gezogen zu werden. Der Algorithmus, der auf das Erregungspotenzial von Videos besonders anspringt, weil Erregung Interaktion bedeutet, rankt diesen Content höher als andere Inhalte.

Forscher befassen sich seit Jahren mit dem Emotions-Exponential

Das Social Web ist auf das Bedürfnis nach Austausch und Dialog ausgelegt, das auf die Erschütterung durch solche Bilder folgt. Die Gefahr dabei: Mit jedem Gespräch über die Katastrophe werden natürlich auch die Bilder der Explosion weiterverbreitet. Auch solche, deren Quelle unbekannt ist. Mit wenigen Retweets und Weiterleitungen in der Chat-Gruppe können sie eine vielfach größere Reichweite entwickeln als das gruselige Rätsel vom Eisbach. Ohne weitere Einordnung, ohne Gespräch und Empathie entsteht so eine fatale Rechnung. Die heißt: "Geteilte Angst ist doppelte Angst."

Medienwissenschaftlerinnen und Social-Media-Experten befassen sich seit Jahren mit diesem Emotions-Exponential. Denn auch Freude kann auf diese Weise geteilt und verdoppelt werden. Muss es dann nicht auch möglich sein, Angst durch das Teilen tatsächlich kleiner werden zu lassen? Auch im Social Web gilt schließlich: Wer sich in seiner Sorge verstanden fühlt, ist weniger allein.

Die Erfahrung im Umgang mit Social Media in Katastrophenlagen zeigt, dass verantwortungsvollen und vernünftigen Nutzern hier eine entscheidende Bedeutung zukommt. Der Tech-Kolumnist Farhad Manjoo von der New York Times hat das jüngst so zusammengefasst: "Die Lehre der vergangenen Dekade lautet, dass unsere privaten Entscheidungen über Technologie Geschäftsmodelle und Gesellschaften verändern können. Sie spielen eine Rolle." Nutzerinnen und Nutzer sind den Entscheidungen großer Technologie-Unternehmen also nicht wehrlos ausgeliefert. Ihr Handeln kann konkrete Folgen für steigende oder einbrechende Umsätze haben. Gleiches gilt auch für die Nutzung von sozialen Medien.

Jede und jeder müsste sich dafür lediglich konsequent fragen: Was leite ich weiter? Übernehme ich Verantwortung für die Folgen, die ich damit bei meinen Freunden und Chat-Kolleginnen auslöse? Oder geht es mir nur darum, meinen Gefühlen eine Bühne zu verschaffen?

Medienkompetenz geht genau hier weiter.

Und zwar unabhängig vom Alter. Die Grundschülerin wird mit etwas Glück in der Schule über die Wirkung von Medien und ihre Rolle als Nutzerin sprechen. Die Generation der Erwachsenen muss sich diese Fortbildung aktiv selbst suchen.

Eine US-Studie stellte 2019 fest, dass Amerikaner über 65 Jahren proportional am häufigsten Falschmeldungen in sozialen Medien teilten. Womöglich taten sie dies nicht aus böser, irreführender Absicht. Vielleicht waren es die eigenen Emotionen, der Wunsch, Freunde zu schützen, die den Impuls auslösten, ungeprüft Bilder und Informationen weiterzuleiten. Umso schlimmer können die Folgen bei Freunden sein, die diesen Nachrichten vertrauen, weil sie annehmen, der Absender habe sie geprüft. Der Gedanke dabei: "Was von einer Freundin kommt, wird ja gut sein." Das stimmt leider nicht zwangsläufig. Schreckliche Bilder wie jene aus Beirut können auch traumatisierend wirken, wenn sie von Freunden kommen.

Medienhäuser haben auf diese Entwicklung reagiert und schalten immer häufiger Hinweise vor ihre Videos: "Warnung, es folgt verstörender Inhalt", hat die BBC zum Beispiel bei Instagram auf eine rote Hinweistafel vor den Clip der Explosion aus Beirut geschrieben. Übersetzt in verantwortungsvolle Social-Media-Nutzung fragt dieses Schild: "Willst du diese Bilder wirklich deinen Freunden zeigen?"

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