Anne Will zum Ukraine-Konflikt:Eine Leerstelle namens Scholz

Lesezeit: 2 min

Jürgen Trittin und Kevin Kühnert versuchen souverän und mit betroffener Miene, Deutschlands Haltung im Ukraine-Konflikt zu erklären. (Foto: NDR/Wolfgang Borrs; NDR/ Wolfgang Borrs/NDR/Wolfgang Borrs)

Warum keine Waffen für die Ukraine? Wie sich Trittin und Kühnert bei Anne Will im Namen des Kanzlers mit deutschen Lebenslügen abmühen.

Von Josef Kelnberger

Deutschland müsse aus seinem Dornröschenschlaf erwachen, sagte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk während seines leidenschaftlichen Appells an die Bundesregierung, seiner Heimat Waffen zu liefern. Das war angesichts der Dramatik der Lage ein fast schon schmeichelhaftes Bild. Wer Deutschland für die angeblich wachsweiche Haltung im Ukraine-Konflikt kritisiert, stellt sich dieses Land kaum als Prinzessin vor, die man unbedingt wachküssen will.

Dieses Dornröschen gilt seinen Kritikern eher als verschnarchtes, verfettetes, verlogenes Wesen, das man wachrütteln, vielleicht sogar wachprügeln muss, damit es eine angemessene Rolle in der Welt spielt. Deutschland mache augenscheinlich lieber Geschäfte mit Autokratien wie Russland oder China, statt der Ukraine in ihrem Freiheitskampf mit Waffen zu helfen, sagte provozierend die amerikanisch-polnische Journalistin Anne Applebaum, aus den USA zugeschaltet.

Es herrscht Aufregung im Dornröschenland. "Worte oder Waffen - wo steht Deutschland im Ukraine-Konflikt?" hatte Anne Will ihre Sendung betiteln lassen. Das war ziemlich polemisch und ziemlich daneben, denn Waffen sind keine Alternative zu Worten in diesem Konflikt. Aber das Thema "Waffen für die Ukraine" ist offenbar zum Symbol geworden: erstens für mangelnde Überzeugungskraft der neuen deutschen Bundesregierung und zweitens für jahrzehntelang gepflegte deutsche Lebenslügen.

Die große Leerstelle im Studio war Olaf Scholz, dem es nicht gelungen ist, dem Rest der Welt eine deutsche Haltung nahezubringen, die den Verdacht widerlegt, ihm sei Erdgas aus Russland vielleicht wichtiger als die Freiheit der Ukraine. Sein SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, der grüne Altmeister Jürgen Trittin und sogar der Linke Dietmar Bartsch mühten sich, die Leerstelle Scholz zu schließen - mit Solidaritätsadressen an die Ukraine und zugleich Appellen zur Mäßigung.

Kühnert sagte mit überaus betroffener Miene, die Haltung von Scholz sei glasklar, und wer Deutschland nun als "unsicheren Kantonisten" darstelle, tue das mit schlechten Absichten. Jürgen Trittin fasste, sehr souverän, die Strategie des Westens in drei Sätzen zusammen. Man werde militärisch nicht eingreifen, sollte Wladimir Putin seine Truppen in der Ukraine einmarschieren lassen. Es gebe keine militärischen Hebel, um Putin zu stoppen. Was Putin allerdings riskiere, seien die kompletten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zum Westen. Daran gebe es keinerlei Zweifel. Aber ob das genügt, Ukrainer zu überzeugen, die sich von Scholz und auch der grünen Außenministerin Annalena Baerbock verlassen fühlen?

Botschafter Melnyk ließ erkennen, dass es nicht sehr geschickt war, wie die Außenministerin bei ihrem ersten Besuch in Kiew argumentiert hatte: Deutschlands historische Verantwortung gebiete es, der Ukraine keine Waffen zu liefern. Hat Deutschland keine historische Verantwortung für die Ukraine? Und wie kommt es, dass Deutschland trotz seiner Historie als viertgrößter Waffenexporteur der Welt sogar autokratische Staaten beliefert? "Deutschland", sagte Anne Applebaum, "benutzt seine Geschichte als Ausrede." Dornröschen muss darauf Antworten finden.

Josef Kelnberger arbeitet seit Sommer 2021 für die SZ als Korrespondent in Brüssel. Seine Lieblingssendungen dort sind flämische Talkshows: Er versteht kein Wort, fühlt sich aber gut unterhalten. Mit deutschen Talkshows geht es ihm leider oft umgekehrt. (Foto: Bernd Schifferdecker)
© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: