La Boum:Meine Eltern und Adenauer

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(Foto: Steffen Mackert)

Angela Merkels Abschiedsbesuch im Burgund erinnert unsere Kolumnistin an den deutsch-französischen Gründungsmoment ihrer Familie.

Von Nadia Pantel

In meiner Familie gibt es einen kleinen und einen großen deutsch-französischen Moment. Der kleine deutsch-französische Moment ist knapp über einen Meter groß, führt Selbstgespräche en français, wenn er seine Autos auf dem Teppich hin und her schiebt, und nennt mich "Mama", nicht "Maman". Der große deutsch-französische Moment ereignete sich in den Sechzigerjahren. Damals war Konrad Adenauer deutscher Kanzler und meine Eltern waren noch nicht meine Eltern. Sie erzählen die folgende Episode weniger kitschig, aber: Adenauer war für sie so etwas wie der Mond, den sie gleichzeitig am Himmel sahen.

Es war so: Im Januar 1963 studierte mein Vater in Paris. Wie lange diese Zeit her ist, merkt man daran, dass er damals für zehn Pfennig auf der Dachterrasse des La Samaritaine Kaffee getrunken hat. Heute kriegen Sie dort Croque Monsieur mit Trüffel für 20 Euro. Andererseits ist diese Zeit auch nicht so lange her, schließlich kann mein Vater mir von ihr erzählen.

Mein Vater wollte Teil der "Versöhnung" sein

Niemand in seiner Familie sprach Französisch. Er fuhr nach Paris, weil er das Gefühl hatte, dass seine Generation eine Aufgabe vererbt bekommen hatte. Sicherlich auch, weil Paris weit weg von zu Hause war, und er dort tun und lassen konnte, was er wollte. Aber er befestigte tatsächlich eine Deutschlandfahne an seinem Rucksack und fuhr per Anhalter durchs Land, um Franzosen kennenzulernen. Weil er ein kleiner Teil von diesem großen Wort "Versöhnung" sein wollte. Und als Adenauer im Januar 1963 zur Unterzeichnung des Élysée-Vertrags nach Paris flog, wanderte mein Vater von seinem Studentenwohnheim zum Flughafen Orly, um zu sehen, wie Geschichte geschrieben wird. Es waren vier Kilometer, einen Bus gab es nicht. Dafür einen Zaun um den Flughafen herum. Bei dem Versuch, darüber zu klettern, wurde mein Vater von der Polizei heruntergepflückt. Vielleicht war es ein Zeichen der gerade wieder zart beginnenden deutsch-französischen Freundschaft, dass sie ihn nur halbherzig beschimpften und ihn dann hinten auf der Rückbank zum Rollfeld mitnahmen.

Ein halbes Jahr bevor mein Vater Adenauer in Orly auflauerte, hatte meine Mutter den deutschen Kanzler in Pont de la Maye gesehen, wo sie mit ihren Eltern und einigen Hühnern lebte. Auf seinem ersten Staatsbesuch in Frankreich im Juli 1962 fuhr Adenauer im offenen Wagen durch den Ort. Meine Mutter erinnert sich, wie Adenauer winkte, wie sie zurückwinken wollte, sich aber nicht traute. Um sie herum hatten ihre Nachbarn die Arme vor der Brust verschränkt. Sie schwiegen. Sie wollten zwar Adenauer sehen, willkommen war er nicht.

Als Angela Merkel in dieser Woche auf Abschiedsbesuch im Burgund war, musste ich an meine Eltern und an Adenauer denken. Immer wieder schaute ich mir die Videoschnipsel an, die Merkel beim Winken, Lächeln und Händeschütteln zeigen. Wie gerührt und entspannt alle wirkten. Und wie viel sich in 60 Jahren verändern kann.

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