Medizin und Wahnsinn (99):Von Ärzten vernichtet

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Früher war es unter Ärzten üblich, sich schnell mal gegenseitig zu helfen. Diese Zeiten sind vorbei. Das neue Reizwort heißt "Vernichtungsschmerz".

Werner Bartens

In der Not halten die Menschen zusammen. Das ist eine alte Volksweisheit, angeblich richten sich sogar viele Tiere danach, wie die herzerwärmende Geschichte von den Igeln zeigt. Wenn es kalt wird, so die Legende, rücken die Tiere zusammen, um sich zu wärmen. Igel müssen aber nicht nur beim Küssen, sondern auch wenn sie sich aus thermischen Gründen nahe kommen, ganz ganz behutsam sein. Es ist schwer für sie, den optimalen Abstand zu ermitteln - wegen Stacheln. Deshalb sind die Igel in der Geschichte auch wieder etwas auseinandergerückt, sodass sie sich nicht zu arg pieksten, aber dennoch gegenseitig ein wenig Körperwärme spendeten.

"Du sollst nicht foltern!" Diese Maxime hat nicht jeder Arzt verinnerlicht. (Foto: Foto: iStockphotos)

Wahrscheinlich ist an dieser putzigen Überlieferung aber nichts dran, denn Igel sind Winterschläfer. Deshalb ist es vermutlich erst recht vermessen, den Hang der Tiere zur Nachbarschaftshilfe als anthropologische Konstante zu preisen, denn der Mensch ist dem Menschen eher ein Wolf und nur selten ein Igel, womit wir bei den Ärzten wären.

Ärzte befinden sich derzeit bekanntlich in größter Not, wie sie es das ganze Jahr über chronisch kundtun. Die Patienten sind mal ungezogen, mal ungewaschen, die Politiker unverschämt, und verdient haben Ärzte schon immer zu wenig. Die gefühlte 37. Honorarreform versteht keiner von ihnen, und der Gesundheitsfonds taugt nicht mal für die Suppe. Da ist es kaum ein Trost für sie, dass Ulla Schmidt abgewählt wurde. Wie arm die Ärzte derzeit dran sind, zeigt auch das Schicksal des Arztes Dr. K., eines Studienfreundes, der in der Not nicht auf die Hilfe seiner Kollegen zählen konnte.

Kürzlich saß ich auf seinem gelben Sofa. Er sah jämmerlich aus, hatte furchtbare Schmerzen und hielt sich die Wärmflasche abwechselnd auf Bauch und Lende. Dem Ärmsten waren Nierensteine entfernt worden. Um die Beschwerden bei Nieren- und Harnleiterkoliken zu beschreiben, gibt es in der Ärztesprache den Begriff Vernichtungsschmerz. Jeder fühlende Mensch ahnt, was das bedeutet - man fühlt sich ausgeliefert, hilflos, hat Todesangst und sieht sich der physischen Vernichtung nahe.

"Sind Sie privatversichert?"

Interpretiert man den Hippokratischen Eid frei, kann man den Grundsatz "Du sollst nicht foltern", dort finden. Kollege Dr. K. fühlte sich schlimmsten Torturen ausgesetzt, nachdem ihm die Nierensteine entfernt worden waren. Die Urologin hatte ihm vorher gesagt, wenn er morgens zu dem kleinen Eingriff kommen würde, könnte er die Klinik mittags wieder verlassen. Er bräuchte nicht mal eine Zahnbürste mitzubringen. Er hat sich dann ziemlich lange nicht die Zähne putzen können - und bis heute schmerzt sein Urogenitaltrakt, als ob jemand mit Messern darin herumrühren würde.

Vier Tage nach dem ruppigen Eingriff war Dr. K. wieder seinem Beruf nachgegangen - er arbeitet in derselben Klinik, in der ihm die Steine entfernt worden waren. Nach wenigen Stunden ließen sich die Schmerzen nicht mehr aushalten. Er rief in der Urologie an, ob er kurz hinunterkommen könnte. "Sind Sie privatversichert?", fragte ihn der diensthabende Arzt. Als er verneinte, aber auf seine Schmerzen hinwies, sagte ihm der Urologe, dass es in ein paar Tagen passen würde. Dr. K. versorgte sich selbst mit Schmerzmitteln, ging nach Hause, legte sich ins Bett und dachte an die Solidarität unter Igeln.

Zwei Tage später war er wieder bei der Arbeit, aber die Schmerzen übermannten ihn erneut. Diesmal ging er - im weißen Kittel - direkt in die urologische Ambulanz und bat einen Arzt, kurz den Ultraschallkopf auf seine malträtierte Lende zu halten. Früher war es unter Ärzten üblich, sich schnell, unkompliziert und oft sogar unentgeltlich zu helfen. Der Arzt sagte nur: "Sie haben keine Kleber auf Ihrer Karte und müssen sich erst anmelden." Der Vernichtungsschmerz, der Dr. K. durchfuhr, war unermesslich.

© SZ vom 02.10.2009/aro - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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