Medizin und Wahnsinn (93):Befreit aufstoßen

Lesezeit: 2 min

Rauslassen, aufstoßen, befruchten: Wenn sich die Kommentatoren von sportlichen Wettbewerben in Ekstase reden, entstehen die lustigsten Wortgebilde.

Werner Bartens

In der Welt des Sports ist vieles rätselhaft. Man wüsste beispielsweise gern, was Kugelstoßer so antreibt. Vor allem würde man gerne wissen, warum Kugelstoßer und Kugelstoßerinnen nicht nur eine schwere Kugel am Hals, sondern oft auch am Bauch mit sich herumtragen. Der Stoffwechsel von Kugelstoßern muss ganz ähnlich beschaffen sein wie der von Sumo-Ringern, nur dass die einen sich glitschig machen und die anderen gerade nicht wollen, dass ihnen die Kugel wegglitscht. Ihrer Erscheinung und ihren Urlauten nach müssen Energieumsatz und Verdauung bei Kugelstoßern außergewöhnlich sein. Sodbrennen und drückende Beschwerden am Magenpförtner bleiben da nicht aus.

Ralf Bartels, von seinen Freunden "Dicki Ralfi" genannt, gewann bei der Leichtathletik-WM die Bronzemedaille im Kugelstoßen - und konnte danach "befreit aufstoßen". (Foto: Foto: dpa)

Auf diesen sportmedizinisch bedeutsamen Umstand haben am vergangenen Wochenende dankenswerterweise die ARD-Fernsehreporter Ralf Scholt und Wilfried Hark hingewiesen, die während der Leichtathletik-WM das Finale im Kugelstoßen der Männer begleitet haben. Der Neubrandenburger Ralf Bartels, von Freunden wegen seiner 145 Kilogramm Gewicht bei 1,86 Meter Körpergröße nur zärtlich "Dicki Ralfi" genannt, lag vor dem letzten Durchgang aussichtsreich auf Platz drei.

Nachdem die hinter ihm Platzierten seine Bestweite nicht übertroffen hatten, war dem Kugelstoßer die Bronzemedaille vor seinem abschließenden Versuch nicht zu nehmen. "Jetzt kann Ralf Bartels befreit aufstoßen", riefen die Fernsehmänner euphorisch und am Bildschirm hatte man den Eindruck, als würde das Stadion vor Begeisterung Bäuerchen machen.

Die ARD-Männer Ralf Scholt und Wilfried Hark gehen dorthin, wo es weh tut und verschweigen auch menschliche Notlagen im Sport nicht. Eine Tradition, die Heinz Maegerlein 1959 mit seiner legendären Bemerkung "Tausende standen an den Hängen und Pisten" eröffnet hat, wenngleich die mangelnde Versorgung mit öffentlichen Toiletten an Skihängen immer noch zu beklagen ist.

Das Spiel befruchten

Bei einem weiten Wurf oder Sprung von Sportlern "lassen sie einen raus", was immer auch ganzheitlich zu verstehen ist. Offenbar sind sportliche Höchstleistungen und Körpersekrete eng miteinander verknüpft. Der Psychologe Heinz-Georg Rupp hat darauf hingewiesen, dass die verbreitete Spuckerei von Fußballern als "Befreiung von Blockaden" zu verstehen ist, was dem "befreiten Aufstoßen" von Herrn Bartels nahekommt. Die Handlung eingewechselter Spieler, die als erste Handlung auf den Rasen rotzen, könne als sinnbildliche Tat verstanden werden, nach dem Motto: "Jetzt will ich das Spiel befruchten." Warum ausgewechselte Spieler als letzte Handlung ebenfalls spucken, hat Herr Rupp nicht verraten. Vielleicht erklären die Spieler so die Befruchtung für beendet.

Weiterführend sind in diesem Kontext die Untersuchungen spanischer Verhaltensforscher zum Spuckverhalten auf Fußballplätzen rund um die Welt. Während entsprechende Studien zum Aufstoßen noch ausstehen, haben die Wissenschaftler aus Gijon beobachtet, dass sich Spieler im Süden häufiger von ihren Blockaden befreien und ungehemmt auf das Spielfeld rotzen. Im Norden wird nicht so viel gespuckt.

Aufschlussreich sind auch Analysen der Flugkurven. Demnach gibt es offenbar nationale Eigenheiten im Spuckverhalten: Deutsche Kicker befördern ihren Speichel geradlinig und zielstrebig aus dem Mund. Österreicher lehnen sich leicht zurück und spucken mit erhobenem Haupt im hohen Bogen. Fußballer in Italien sind hingegen um Eleganz bemüht und den Forschern aus Gijon zufolge auch beim Spucken bemüht, bella figura zu machen. Wenig untersucht ist allerdings das Spuckverhalten gegenüber dem Gegner. Der niederländische Fußballer Frank Rijkaard spuckte Rudi Völler bei der WM 1990 in die Frisur. Daraufhin kam es zu einem Handgemenge, in dem beide Spieler befreit zugestoßen haben.

© SZ vom 22.08.2009/aro - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Gesund trinken
:Sportliche Durstlöscher

Süß oder salzig, so viel wie möglich oder in kleinen Schlucken? Wer Sport treibt, braucht Flüssigkeit. Doch welche Durstlöscher eignen sich am besten?

Mirja Kuckuk

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: