Dem Geheimnis auf der Spur:Mord in schlechter Gesellschaft

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"Pfui Teufel! Wie kann man so ohne Borsten herumlaufen?" Zeichnung "Zur Lex Heinze" von Ferdinand von Reznicek im "Simplicissimus" (1899). (Foto: SZ Photo)

Ein brutales Verbrechen führte im deutschen Kaiserreich zu einem höchst umstrittenen Gesetz, das auch die Kunstfreiheit einschränken sollte.

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Eigentlich ging es um etwas ganz anderes. In einer düsteren, zugigen Nacht im gründerzeitlichen Berlin des Jahres 1890 fand man einen Hausbesitzer am Boden liegend, brutal ermordet. Über den Fall berichtet Michael Stolleis in seinen profunden Rechtsgeschichten "Margarethe und der Mönch", allerdings etwas sachlicher als die Berliner Zeitungen jener Zeit. Es festigte sich das Gerücht, der Mann sei wegen seines Reichtums gemeuchelt worden, den er mittels seines Mietshauses erwirtschaftet hatte. Das Wohnungselend gab es wirklich, denn ganz so schnell ging es nicht mit dem Aufbau des Kaiserreiches nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich. Deutschland hatte zwar Reparationen im Wert von 1450 Tonnen Gold gefordert und die heimische Wirtschaft blühte auf - es schien keinen Ort zu geben, der lebenswerter war als das deutsche Kaiserreich. Aber die Betonung lag auf reich, denn die da unten hatten nichts zu lachen, wenig zu essen und oft kein Dach über dem Kopf.

Die Mörder waren bald gefasst. Es handelte sich um Herrn und Frau Heinze von nebenan. Vor Gericht sagten sie: wegen der Wohnungsnot. Sicherlich konnte man sich die Sympathie der Massen sichern, wenn man als Grund für den grausamen Mord das schreckliche Elend des Proletariats ins Feld führte. Tatsächlich verbündeten sich bald darauf ein paar reiche Familien und gründeten eine gemeinnützige Siedlungsgesellschaft, wie der Publizist Joachim Fest in seinen "Erinnerungen" anmerkt.

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Andere Quellen sagen, es habe sich gar nicht um einen Hausbesitzer-Mord gehandelt, sondern um eine Tat im Rotlichtmilieu, bei der eine junge Frau getötet wurde. Angeklagt waren der Berliner Töpfer Gotthilf Heinze und seine Frau Anna, die als Prostituierte ihr Geld verdiente. Beim anschließenden Prozess 1891 wurde Heinze verurteilt, und die allgemeine Empörung, schon damals wichtigster politischer Hebel, wuchs rasant. Die Zeitungen berichteten ausführlich und monierten den angeblichen Verfall der Moral, Vertreterinnen der Sittlichkeitsvereine zogen schnaubend über die Promenaden. Es durfte nicht sein, dass in der Kunstakademie nackte Frauen vor Männern saßen und in den Badeanstalten kaum bekleidete Jugendliche einander anstarrten. Und dass im Theater und generell in der naturalistischen Literatur offenbar der schiere Sexualtrieb die Oberhand gewann - dies galt es auf jeden Fall zu verhindern.

Der deutsche Kaiser führte auch einen Feldzug gegen die Moderne in der Kunst

Auf Initiative des Kaisers, vielleicht auch seiner Gattin, wurde nun die "Lex Heinze" auf den Weg gebracht, die Schluss machen sollte mit "Kuppelei", also Zuhältertum, darüber hinaus aber auch den Anfängen wehren sollte: mit einem "Kunst- und Schaufensterparagraphen" gegen die Verbreitung von Bildern oder Schriften, die "das Schamgefühl gröblich verletzen". Kunstwerke waren davon nicht ausgenommen, so wie dies auch heute wieder im Internet gehandhabt wird. Allerdings ging es dem deutschen Kaiser nicht nur um den Verfall der Sitten, sondern auch hier um die Anfänge, nämlich den von der Moderne bedrohten guten Geschmack, der seit jeher ins Feld geführt wird, wenn man keine Kriterien für die Beurteilung von Kunst hat.

Der gute Geschmack bewegte sich im Kaiserhaus vage zwischen Klassizismus und Historismus, Letzterer allerdings in einer Spielart, die weniger als gegenwärtige stilistische Vielfalt verstanden wurde denn als engstirnige Feier des vermeintlich Bewährten. Die Moderne, die sich laut und lustig dagegen wandte, konnte da nur Unheil bedeuten. Nachdem der Kaiser selber als führender Experte auftrat und entschied, was "Rinnsteinkunst" sei, den Ankauf von Impressionisten behinderte und gegen die Vergabe des Schillerpreises an Gerhard Hauptmann einschritt, mutierte der Hofstaat zu einem Hort antimodernistischer Kulturpolitik. Die Polizeikontrollen in Theatern waren Alltag, dazu konnte jederzeit ein launisch beschlossenes Edikt des Kaisers für Verbote sorgen. Recht spät formierte sich Widerstand, die Künstler hatten die Lex Heinze kaum bemerkt. Erst zur dritten Lesung im Reichstag Anfang 1900 fanden sich kämpferische Kreative zusammen, dazu Professoren und intellektuelle Prominenz, etwa Adolph von Menzel und der Nobelpreisträger Theodor Mommsen. Auf der Gegenseite der Demonstranten vom 4. März 1900 positionierten sich die Kaiserin als Protektorin des "Vereins deutscher Fürstinnen zur Hebung der Sittlichkeit", aber auch Maximilian Harden, sozusagen Reichs-Enthüllungsjournalist, seit der Eulenburg-Affäre prominenter Ankläger unsittlicher Lebensführung.

Der Widerstand gegen die Lex Heinze wuchs sich nun zum Kulturkampf aus gegen Zensur und kunstästhetische Bevormundung. Am Ende bröckelte die Reichstagsmehrheit aus katholischen und protestantischen Erzkonservativen, der öffentliche Protest kam auch aus den eigenen Reihen. Die Liberalen unterstützen die SPD, und heraus kam eine kaum veränderte Fassung des geltenden Zensurgesetzes, das man damit umging, dass man bedrohte Veranstaltungen als "geschlossene Gesellschaft" ausrief. In der Praxis hieß das: Im Theater siegte der Naturalismus, in der bildenden Kunst der Impressionismus, in der Musik die Neudeutsche Schule - alles, was damals unvorstellbar modern war. Satirezeitschriften und Prostitution blühten, der Wohlstand wuchs. Und spätestens mit der Weimarer Verfassung von 1919, in der ausdrücklich die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre festgeschrieben wurde, schien die Zeit der politischen Gängelung von Kultur und Kunstschaffenden vorbei. Aber auch diese glückliche Phase währte nicht allzu lange; der Untergang der Weimarer Republik bedeutete auch das Ende von Kunst- und Pressefreiheit.

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