Kinder - der ganz normale Wahnsinn:Ist doch nicht so schlimm

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Noch ist die Welt rosarot. Aber wenn die Sandburg gleich einstürzt, schlagen Wut und Enttäuschung wieder zu. (Foto: J. Hosse)

Wenn Kinder von Kleinigkeiten enttäuscht werden, heulen sie vor Wut schon mal los, werfen sich auf den Boden oder springen herum wie kleine Teufel. Eltern müssen dann an sich halten, um nicht zu schimpfen - oder zu lachen.

Von Katja Schnitzler

Als ihr Sohn erstmals in nur wenigen Sekundenbruchteilen von einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und Trauer überwältigt wurde, kam das nicht nur für ihn überraschend. Auch die Eltern staunten. Das, was gestern noch kein Problem gewesen war (die Jacke alleine anziehen, aber der zweite Ärmel macht nicht mit), warf ihren Sohn heute um. Und das wortwörtlich.

Wut und Enttäuschung, die beiden üblen Gefühlsgesellen, schlichen sich von hinten an und erschütterten das Kleinkind seelentief: Sein ganzer Körper spannte sich zu einem zornigen Ausrufezeichen, steif knickte es nach hinten weg, die Hände zu zitternden Fäusten verkrampft. Und die Tränen, sie sprangen so empört aus den Augen, dass einige nicht mal die Wangen berührten. Das Kleinkind brüllte, die Welt sollte von seinem Schmerz erfahren.

Und die Eltern? Nun, die Eltern hatten zwar schon von den Gefühlsstürmen gelesen, die ein kleines Kind noch nicht steuern kann. Von Trost und Zuspruch, die es in diesem Moment braucht. Dennoch mussten sie jetzt einen Punkt auf ihrer Beim-Erziehen-versagt-Liste hinzufügen: Sie lachten.

Erst ein verschämtes Schmunzeln, dann ein unhaltbares Prusten, gefolgt von leisem Kichern. Beim Atemholen riss der Sohn die Augen auf und sah das Lachen der Eltern. Kurz hielt er inne. Dann weinte er trommelfellzerfetzend: doppelte Enttäuschung, doppelte Lautstärke.

Die Eltern würden natürlich niemals lachen, wenn sich der Sohn wehgetan hätte. Aber diese plötzlich auftauchenden, mehr oder weniger grundlosen Heulattacken, nun, sie entbehrten nicht einer gewissen Komik.

Dass sie nicht die einzigen Eltern waren, die sich von weinenden Kindern nicht zwangsläufig zu Tränen rühren ließen, wussten die Eltern. Im Internet stellte zum Beispiel ein Vater seinen einjährigen Sohn regelmäßig bloß, mit Fotos, auf denen der Junge weinte. Weil er keinen Whiskey trinken durfte. Weil er seinen Bruder nicht länger mit der Fliegenklatsche schlagen durfte. Weil er im Autositz festgeschnallt wurde. Weil sein Vater ihm nicht schnell genug die Fotos zeigte, auf denen er weinte.

Trotzdem war den Eltern nicht ganz wohl dabei, dass sie lachten, während ihr Sohn so offensichtlich litt. Noch mehr belastete es ihr Gewissen, wenn es nicht beim Lachen blieb. Denn die Situation war nicht mehr komisch, wenn die Eltern doch endlich das Haus verlassen wollten. Mitsamt Kind. Mit angezogener Jacke. In die sich der heulende Sohn aber nicht helfen lassen wollte. Nie mehr. Blöde Jacke. Blöde Eltern. "Blöder Zeitdruck", dachten die Eltern und verloren ihren Humor.

Sie sagten: "Ist nicht so schlimm" und "Jetzt stell dich nicht so an". Der Sohn heulte: "Doch!".

Letztendlich verließen zwei Erwachsene und ein schluchzendes Kleinkind das Haus mit einer Viertelstunde Verspätung. Schlecht gelaunt waren nun alle, Jacken hatten nur zwei von ihnen an.

"Wie habt ihr das nur gemacht?", fragten die Eltern ein befreundetes Paar, das die Heul-und-Schrei-Phase schon mehr oder weniger geräuschlos hinter sich gebracht hatte. "Wir haben uns an die Zauberformel gehalten", sagte das Paar und wartete genüsslich ab, bis die Eltern ergeben fragten: "Welche Zauberformel?".

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:Ich bin wütend, so wütend

Bei Kindern in der Trotzphase genügen Kleinigkeiten, um süße Engelchen in wütende Teufel zu verwandeln. Die Eltern stehen beschämt davor. Leider glaubt niemand die Behauptung: "Der gehört nicht zu mir."

Katja Schnitzler

"In den Arm nehmen, Verständnis zeigen." Aber das Kind müsse doch bei diesen Temperaturen eine Jacke anziehen, meinte die Mutter. Doch das, erfuhr sie, war das falsche Verständnis: Es ging um die Gefühlslage, weniger um die Jacke.

Als der Sohn das nächste Mal mit der Jacke kämpfte und das Gefühls-Trio aus Wut, Enttäuschung und Trauer ihr Kind aus der Fassung brachte, probierten die Eltern die Zauberformel aus. Auf den Arm nehmen klappte nicht, das Wutkind wehrte sich strampelnd. Aber eine leichte Umarmung war möglich.

Die Armbeuge war bald nass von den Tränen, der kleine Kinderkörper wurde von Schluchzern geschüttelt. "So eine blöde Jacke", sagte die Mutter, "dass sie dich einfach nicht in den Ärmel schlüpfen lässt!" Das Schluchzen wurde schwächer. "Klar, dass du dich jetzt so richtig ärgerst. Würde ich mich auch", sagte die Mutter. Der kleine Körper entspannte sich, matt hing ihr Sohn in ihrem Arm. "Jaaa", flüsterte er leise. Er weinte noch ein wenig vor sich hin. Dann stand er schniefend auf. "Gehen wir jetzt?"

Sie gingen, das Kind noch etwas erschöpft, aber wieder bereit für die Herausforderungen dieser Welt. Die Mutter durchaus stolz. Innerlich malte sie einen dicken Pluspunkt auf die Heute-war-ich-pädagogisch-wertvoll-Liste. Und kicherte dann.

"Warum lachst du?", wollte ihr Sohn wissen. Die Mutter redete sich auf das lustige Bilderbuch von heute Morgen heraus. Der Kleine musste nicht wissen, wie urkomisch er wieder ausgesehen hatte, heulend und zitternd vor Wut.

Die Mutter kauft zwar die Schokolade, aber das Kind darf sie nicht sofort aufessen - für Zweijährige durchaus ein Grund, aus der Haut zu fahren. Ihnen nun zu erklären, dass das doch nicht so schlimm ist, hilft gar nichts. Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten erklärt, wie Eltern besser auf Gefühlsausbrüche ihrer Kinder reagieren.

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