Das andere Kind macht nicht augenblicklich die Schaukel frei, der Fuß weigert sich, in den Schuh zu passen, und Eis zum Frühstück gibt es auch nicht: In den Augen der Eltern mögen das Kleinigkeiten sein, doch für kleine Kinder bricht wegen so etwas fast die Welt zusammen. Sie reagieren mit großer Wut und Tränen, wenn es nicht so läuft, wie sie es sich vorgestellt haben. Familienforscher Hartmut Kasten erklärt, warum auch Dreijährige noch nicht warten können und wie Eltern darauf reagieren sollten.
SZ.de: Manche Eltern amüsieren sich mitunter köstlich über ihre vor Wut weinenden Kleinkinder oder sagen: "Ist doch nicht so schlimm." Wie kommt das bei den Kindern an?
Hartmut Kasten: Sie fühlen sich unverstanden und das zu Recht. Eltern müssen die Gefühle ihrer Kinder ernst nehmen. Natürlich ist es schlimm, es gibt für das Kleinkind in diesem Moment nichts Schlimmeres auf der Welt! So viel gehört zum Elternsein schon dazu, dass sich Mütter und Väter da in die Gefühlslage ihres Kindes hineinversetzen können.
Wieso fahren kleine Kinder wegen scheinbarer Kleinigkeit überhaupt so schnell aus der Haut?
Ältere Kinder und Erwachsene haben gelernt, diese Gefühle zu steuern. Wenn wir uns in der Arbeit ärgern, holen wir uns abends Trost beim Partner oder bei Freunden. Kleinkinder in der Autonomiephase, wie ich die Trotzphase lieber nenne, haben diese Möglichkeit nicht. Sie haben einen Plan, und der muss jetzt sofort erfüllt werden - sonst sind Frust und Enttäuschung überwältigend groß. Sie können auch Verlockungen erst gegen Ende des vierten Lebensjahres widerstehen, wenn bestimmte Areale in der Großhirnrinde ausgereift sind. Das zeigen Versuche, in denen Vierjährige mit einer Süßigkeit auf dem Tisch alleingelassen werden, mit dem Versprechen, eine ganze Tüte Süßes zu bekommen, wenn sie dieses eine Bonbon nicht essen. Die meisten greifen aber lieber gleich zu.
Sie können sich einfach nicht zurückhalten?
Genau. Es ist für Eltern hilfreich, zu wissen, dass Kleinkinder sich nicht bewusst für Wut und Tränen entscheiden, sondern dass sie sich noch gar nicht anders verhalten können. Sie sind einfach noch nicht so weit. Wer die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Kinder in diesem Moment wahrnimmt, tut sich leichter, selbst ruhig zu bleiben.
Expertentipps zur Erziehung:"Aggression ist eine Form der Kontaktsuche"
Kleinkinder in der Trotzphase werden von ihren Emotionen regelrecht überwältigt. Ein mahnendes "Führ dich nicht so auf" von den Eltern hilft ihnen nicht aus dem Gefühlschaos. Die Psychologin Doris Heueck-Mauß gibt Tipps, wie Eltern und Kinder leichter durch die Zeit des Zorns kommen.
Und dann nehmen Eltern ihre Kinder tröstend in den Arm und alles ist gut?
Wenn es so einfach wäre. Trösten hilft eher bei älteren Kindern, während die Kleinen in der Autonomiephase in ihrem Wüten meist gar nicht in den Arm genommen werden wollen. Da ist es besser, sie - wenn möglich - wüten zu lassen, aber zu signalisieren: Ich bin da, wenn du mich brauchst. Also sich als Eltern nicht entsetzt abwenden, weil sich das Kind so aufführt und ihm damit ihre Liebe entziehen. Lassen Sie es sich abreagieren, solange es nicht sich selbst oder andere gefährdet. Es hilft, wenn das Kind hört, dass Mutter oder Vater in der Nähe sind und es zu ihnen kommen kann, wenn es sich beruhigt hat.
Wie fällt das dem Kind leichter?
Da gibt es kein Patentrezept. Manchmal funktionieren Ablenkung oder ein Kompromissvorschlag, wenn das Kind schon ein wenig ruhiger geworden ist. Manche spontanen Lösungen sollten Eltern allerdings später hinterfragen, ob sie so richtig waren: Mir selbst ist es mal passiert, dass meine Tochter einen heftigen Wutanfall im Kaufhaus hatte und gar nicht mehr mit dem Schreien aufhören konnte. Irgendwann habe ich laut gefragt, ob jemand wisse, zu wem eigentlich dieses Kind gehöre? Da nahm sie ganz schnell meine Hand. Das würde ich heute nicht mehr so machen, sie hatte da sicher Angst, verlassen zu werden. Aber auch Eltern machen Fehler.
Über die sie mit ihren Kindern reden sollten?
Das kommt auf den Entwicklungsstand des Kindes an. Wenn die Mutter und der Vater vor einem Dreijährigen streiten, ist er zutiefst verunsichert. Erst ältere Kinder wissen, dass die Eltern ein eigenes Innenleben haben, ihre eigenen Meinungen, und sie kennen Streit mit ihren Spielkameraden. Ansonsten ist es aber sehr wichtig, dass die Eltern vermitteln, dass sie selbst manchmal Wut im Bauch haben, dass solche Gefühle ganz normal sind. Auch nach einem Gefühlsausbruch des Kindes sollten sie signalisieren, dass das zum Größerwerden dazugehört und dass sie wissen, wie schwierig der Umgang mit Emotionen ist.
Hilft das auch schon in der Situation selbst?
Unbedingt. Wenn Eltern die Gefühle benennen, "Du hast jetzt aber eine Wut, weil du noch warten musst", merken die Kinder: Sie kümmern sich um mich und verstehen, was mit mir los ist - ich bin nicht allein mit meinem Zorn und der Enttäuschung. Dann wissen sie, die Eltern sind immer auf ihrer Seite. Und das ist das Wichtigste überhaupt.
Professor Hartmut Kasten ist Entwicklungspsychologe, Frühpädagoge und Familienforscher und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er hat unter anderem den Ratgeber "0 bis 3 Jahre. Entwicklungspsychologische Grundlagen" verfasst.