#werwirsind:Mein zweites Leben

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Zwei Monate nach ihrem ersten Mixtape legte Euni Kim im Münchner Club P1 auf. Ein Gig, der ihre Karriere ins Rollen brachte. (Foto: Friedrich Bungert)

"Das hätte ich nicht von dir erwartet": Drei Frauen erzählen, wie sie zwischen zwei gegensätzlichen Welten pendeln - und mit welchen Vorurteilen sie dabei zu kämpfen haben.

Von Ramona Dinauer

Beats und Paragrafen

Euni Kim trat im März ihr erstes juristisches Staatsexamen an. Kurz zuvor stieg sie zur viel gebuchten DJane auf. Eine ihrer beiden Welten möchte Kim nun hinter sich lassen.

Zwei Monate nach ihrem ersten Mixtape legte Euni Kim im Münchner Club P1 auf. Ein Gig, der ihre Karriere ins Rollen brachte. (Foto: Friedrich Bungert)

"Vor sechs Jahren zog ich für mein Jurastudium nach München. Besonders in den ersten Semestern hatte ich praktisch keine Freizeit neben dem Lernen. Trotzdem stand ich voll und ganz hinter diesem Weg. Ich war sogar im Vorstand der Studentenvereinigung Elsa. Jura fing ich nicht an, um einfach irgendetwas zu studieren. Ich wollte mich für mehr Gerechtigkeit einsetzen, da ich in meiner Kindheit oft erlebte, was es bedeutet, diskriminiert zu werden. Meine Eltern sind Koreaner. Beide kamen vor etwa 30 Jahren nach Deutschland und konnten sich anfangs wegen ihrer fehlenden Deutschkenntnisse nicht gegen die Anfeindungen wehren. Als Kind konnte auch ich nichts dagegen tun. Umso mehr wollte ich später eine Stimme haben, um andere rechtlich gegen diesen Rassismus verteidigen zu können. Deshalb konzentrierte ich mich seit meinem Abitur voll und ganz auf mein Studium. Bis eines Tages der harte Wendepunkt kam.

2019 musste ich operiert werden und war im Anschluss drei Wochen lang krankgeschrieben. Plötzlich hatte ich nichts zu tun, was ich bis dahin gar nicht kannte. Zufällig sah ich im Internet die Werbung für ein DJ-Equipment. Aus purer Langeweile kaufte ich es, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas gemixt hatte. Aus dem Krankenbett in meiner Einzimmerwohnung fing ich an, auf dem Mischpult herumzuprobieren - nebenher liefen die Youtube-Tutorials. Nach den drei Wochen war mein erstes Mixtape fertig. Ohne groß darüber nachzudenken, habe ich es auf der Musikplattform Soundcloud hochgeladen. Erwartet habe ich nichts, außer vielleicht, dass meine Freunde Spaß daran haben. Doch das Feedback war so positiv, dass ich direkt zwei weitere Mixtapes machte. Daraufhin schrieb mir der Münchner Club P1. So hatte ich zwei Monate nach der Operation meinen ersten Gig. Der brachte alles ins Rollen. Auf einmal fragten mich auch andere Clubs an. Plötzlich war ich DJane Kimswim. Alles war neu und spannend und frei.

Das Jurastudium vernachlässigte ich dann extrem. Fast eineinhalb Jahre legte ich nur auf und lernte nichts mehr. Schließlich war ich nach kurzer Zeit auf ein Jahr ausgebucht. Erst dachte ich, das wäre normal am Anfang einer DJ-Karriere. Doch bald habe ich gemerkt, dass viele DJs mehrere Jahre auflegen, um an diesen Punkt zu kommen. Oft wurde ich als Quotenfrau abgestempelt, zumal ich fast immer die einzige Frau im Line-Up war. Ich würde mir da mehr gegenseitige Unterstützung in der Branche wünschen. Dieses Konkurrenzdenken kenne ich gut aus meinem Studium. Das ist auch mehr Einzelkampf als Miteinander. Zum Beispiel möchte keiner seine Noten verraten. Im Jurastudium musste ich so viel einstecken, dass ich fürs Nachtleben schon gefestigt war.

Den enormen Druck, den gibt es in beiden Welten. Trotzdem werde ich mich immer für beide Seiten begeistern können. Nur Juristin zu sein wäre mir zu strukturiert und voraussehbar. Ein hundertprozentiges Künstlerdasein wollte ich aber auch nicht - in den Tag hineinleben und immer nur Party, das bin ich nicht. Ich liebe es zu planen und bin sehr verkopft. Nie kann ich meinen Kopf frei bekommen. Außer beim Auflegen. Das ist der einzige Moment im Leben, in dem ich komplett entspannt bin und an nichts anderes denke. Selbst wenn ich später mit Jura mehr Geld verdienen würde, könnte es mir niemals das geben, was mir die Musik gibt.

Mit Corona kam dann wieder ein harter Cut, und ich musste von der einen Welt zurück in die andere. Alle Auftritte wurden abgesagt. Seitdem sitze ich wieder über meinen Gesetzesbüchern. Nachzuholen gab es genug. Seit einem halben Jahr bin ich als Kimswim verschwunden und habe nur gelernt. Im März trat ich dann mein erstes Staatsexamen an. Ohne Corona hätte ich wahrscheinlich nicht wieder mit Jura angefangen. Wenn die Krise vorbei ist, will ich mich auf die Musik konzentrieren und die Juristerei hinter mir lassen - zumindest fürs Erste."

Im Nachtleben wissen die wenigsten, dass Euni Kim Jura studiert. "Die Person, die ich im Nachtleben bin, ist einfach nicht die Jura-Studentin, die ich tagsüber bin", sagt sie. (Foto: Friedrich Bungert/Friedrich Bungert)

Waldluft und Ambulanz

Hanna Bedürftig arbeitet als leitende Oberärztin in der Gefäßchirurgie. Seit 20 Jahren fährt sie Motorrad. Anfangs haben die Unfallopfer in der Ambulanz die Ärztin davon abgehalten.

Die Förderung von Frauen findet Hanna Bedürftig in der Chirurgie besonders wichtig, denn es fehle an Nachwuchs und weiblichen Vorbildern. (Foto: Friedrich Bungert)

"Wenn ich mit dem Motorrad in ein Waldstück fahre, wird die Luft plötzlich kühl. Es riecht nach Bäumen, und man spürt den Wind. Meistens fahre ich nicht schneller als 80 Kilometer pro Stunde. Ich will mir Zeit lassen und den Moment genießen. Im Krankenhaus geht das nicht immer. Da muss ich mir bewusst die Ruhe für die Patienten nehmen und gleichzeitig alle Aufgaben im Blick haben. Ich liebe meine Arbeit, doch das Motorradfahren gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Nicht nur im Moment. Auch als Person darf ich dann jemand anderes sein. Der Zugang zu Fremden ist viel niederschwelliger. Sitze ich in meiner Lederkombi zum Beispiel im Café, komme ich schnell mit anderen Motorradfahrern ins Gespräch. Alle duzen sich. Das trauen sich viele nicht, wenn sie erst einmal wissen, dass ich Ärztin bin. Dabei ist mir das in meiner Freizeit nicht wichtig, da will ich keine Autoritätsperson sein.

Im Krankenhaus schon, denn dort war das nicht immer so. Schon als ich nach dem Abitur Medizin studieren wollte, meinte mein Onkel, ich solle doch eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Gerade als ich anfing, war dieses Klischee verbreiteter: Männer werden Ärzte, Frauen Krankenschwestern, die Ärzte heiraten. Mittlerweile ist das viel besser. Nur in der Chirurgie hält sich das Patriarchat hartnäckig. Ein Bereich, in dem weniger als zehn Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt sind. Nicht nur Patienten, sondern auch Personal registriert teilweise nicht, wer man ist. Manchmal komme ich in den Raum, gebe eine vollständige Diagnose und dann fragt jemand: "Und wann kommt der Arzt?" Durch den handwerklichen Aspekt der Chirurgie traut man den Frauen weniger zu. Dabei ist die Förderung von Frauen in der Chirurgie besonders wichtig, denn es fehlt an Nachwuchs. Und an weiblichen Vorbildern. Auch beim Motorradfahren vermisste ich diese lange. Als Jugendliche kannte ich keine einzige Frau, die Motorrad gefahren ist. Ein Vorbild zeigt einem, dass man sich etwas trauen darf - ob Motorradführerschein oder die Stelle der Oberärztin. Zu beidem hat mich letzten Endes ein Mann angespornt. In meiner Karriere sind Männer schneller als Frauen an mir vorbeigezogen. Das Prinzip kommt von oben - Männer fördern Männer, die ihnen ähnlich sind. Als die Stelle des Oberarztes in einer Klinik, in der ich als junge Fachärztin gearbeitet habe, frei wurde, bekam ein Kollege den Vorzug. Das hat mich geprägt und noch mehr für die Chancengleichheit von Frauen in der Medizin kämpfen lassen. Deshalb engagiere ich mich neben meinem Job als leitende Oberärztin im Krankenhaus Buchholz auch als Vizepräsidentin des Vereins "Die Chirurginnen", der mehr als 500 Mitglieder hat.

Als ich mit dem Motorradfahren anfing, habe ich mir einen Organspendeausweis ins Portemonnaie gesteckt. Mir war klar: Motorradfahrer sind meistens jung und gesund. Wenn sie tödlich verletzt sind, kommen sie oft auch als Organspender infrage. Wie gefährlich Motorradfahren sein kann, habe ich während meiner Ausbildung in der Notaufnahme erlebt. Da wurde jede Woche ein Motorradfahrer eingeliefert. Mal mit Prellungen, mal mit offenen Brüchen. So hat auch eine befreundete Pflegerin bei einem Motorradunfall ein Bein verloren. Solche Erlebnisse begleiten mich. Ich habe lange mit dem Gedanken gespielt, einen Motorradführerschein zu machen. Doch immer, wenn ich kurz davor war, kam wieder ein Motorradfahrer schwer verletzt in die Ambulanz.

Auch deshalb fahre ich nicht gerne alleine. Das ist mir zu unsicher. Meistens fahre ich mit meiner Partnerin zusammen. Ihretwegen kaufte ich mir wieder ein Motorrad und unternahm zum ersten Mal Motorradreisen. Es ist schön, sein Hobby mit jemandem zu teilen. Zwar fahre ich seit Jahren unfallfrei, aber man muss sich der Gefahr bewusst sein. Dieses Risikobewusstsein ist in meinem Job deutlich höher."

Oftmals erkennen Hanna Bedürftig ihre Patienten im Supermarkt gar nicht. Eine Ärztin ganz in Weiß können sich viele nicht in schwarzer Lederkombi vorstellen, sagt die Chirurgin. (Foto: Friedrich Bungert)

Trägerkleid und Wörterbuch

Miriam Amro leitet das Moderessort der Frauenzeitschrift Grazia . Nebenher studiert sie Islamwissenschaften in Hamburg, beeinflusst von der Herkunft ihres Vaters.

Früher arbeitete Miriam Amro in Dubai und Abu Dhabi. Wegen der eingeschränkten Meinungsfreiheit und der fragwürdigen Bedingungen für Gastarbeiter würden sie heute keine zehn Pferde mehr dorthin kriegen. (Foto: Friedrich Bungert)

"Meine beiden Seiten entwickelten sich aus meinen Wurzeln. Mein Vater ist Palästinenser und im Westjordanland aufgewachsen. Meine Mutter kommt aus der Pfalz. Sie begreife ich als den kreativen Kopf in unserer Familie, meinen Vater als den wissenschaftlichen - er ist Nuklearmediziner. Durch seine Herkunft beschäftigte ich mich schon früh mit dem Nahostkonflikt und studierte Politikwissenschaften. Doch nach zwei Semestern kam meine künstlerische Seite mehr durch, und ich studierte Mode- und Designmanagement. Das habe ich durchgezogen. Dennoch verlor ich nie das Interesse an der arabischen Kultur. So arbeitete ich knapp vier Jahre bei Modemagazinen in Dubai und Abu Dhabi. Damals war ich voll auf meine Karriere konzentriert. Heute würden mich keine zehn Pferde mehr dorthin kriegen. Viel Zeit, die Umstände im Land zu hinterfragen, hatte ich nicht.

Heute blicke ich kritisch auf das Verständnis von Konsum und Pressefreiheit. Immer wieder lag unsere Zeitschrift mit zusammengeklebten Seiten im Regal, manche Outfits durfte man nicht drucken. Zum ersten Mal habe ich selbst Mode und Islam so aufeinanderprallen sehen. Zu Hause in Oldenburg empfand ich das nie so. Wir sprachen zwar viel über Religion, aufgezogen wurde ich aber eher unreligiös. Meine Großeltern sind muslimisch, meine Mutter ist evangelisch, mein Vater nicht gläubig. Als ich vor zwei Jahren meine Familie in Palästina besuchte, machte ich es wie meine Mutter. Als ich ein Trägerkleid anziehen wollte, habe ich das getan. Damit hat man schnell Aufsehen erregt.

In die Uni in Hamburg, an der ich seit zwei Jahren Islamwissenschaften studiere, komme ich nicht in Designer-Kleidung, wie ich sie in der Arbeit sehe. Gleichzeitig fingen manche meiner Kommilitoninnen an, Kopftuch zu tragen. Das Studium mache ich neben meinem Vollzeitjob als Modejournalistin. Ich wollte noch eine weitere Herausforderung, da ich glaube, auch mehr als ein Charakter zu sein. Ohne meine gegensätzlichen Züge würde diese Doppelbelastung nicht funktionieren. Jetzt Hocharabisch in der Uni zu lernen ist eine echte Herausforderung, da die Grammatik sehr kompliziert ist. Dabei hätte ich Arabisch als Kind von meinem Vater lernen können. Aber mein Bruder und ich wollten das nicht - wir wollten einfach superdeutsch sein, dazugehören. Im Nachhinein finde ich das schade, weil es heute ein Vorteil wäre.

Mein Leben ist darauf ausgerichtet, dass ich ständig umswitchen muss. Montags islamisches Recht in der Uni, dienstags Designer-Interview in der Redaktion. Als belanglos empfinde ich die Modethemen trotzdem nicht. Beides hat seine Berechtigung. Mich nervt das Klischee der oberflächlichen Moderedakteurin. Man hat das Gefühl, ständig gegen Vorurteile ankämpfen und sich beweisen zu müssen. Ich weiß nicht, ob manche Menschen zu oft "Der Teufel trägt Prada" gesehen haben. Sogenanntes Othering, also sich selbst groß zu machen, indem man andere abwertet, das passiert Moderedakteurinnen oft. Ich will mir aber selbst nichts verbieten, nur weil andere denken, Mode und Islamwissenschaften passen nicht zusammen. Dabei haben die beiden Welten mehr gemeinsam, als man denkt - man traut Frauen weniger zu, als sie eigentlich können. Meine muslimischen Tanten und Cousinen sind beeindruckende, selbständige Frauen. Genau wie meine Kolleginnen bei der Grazia. Ich kann das nicht an einem Stück Stoff festmachen, ob ich eine Frau inspirierend finde. Gleiches Spiel in der Mode. Jeder sollte tragen dürfen, was er will, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden."

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