Wer etwas über die verborgene Seiten der deutschen Geschichte lernen will, der muss sich aus der historischen Mitte Berlins rausbewegen. Am Stadtrand wird in der Zitadelle Spandau in einem Lagerhaus, dem sogenannten Proviantmagazin, der Bruch mit der Geschichte dargestellt. Hier befinden sich jene historische Persönlichkeiten, die entfernt, entsorgt oder vergraben wurden. Weil sie nicht mehr ins Bild der Gesellschaft oder das Selbstverständnis der Herrschenden und Regierenden passten.
In der Zitadelle, einer der am besten erhaltenen Festungsanlagen der Renaissance in Europa, sind die gefallenen und gestürzten Helden Deutschlands versammelt, hier ist das Abklingbecken für toxische Denkmäler - für Hinterlassenschaften, die zu groß sind, um in einen Giftschrank zu passen, den fast jeder Museumsdirektor hat für Stücke, die keinesfalls ausgestellt werden sollen.
In diesem wuchtigen Bau werden die aus dem öffentlichen Raum entfernten Statuen und Stelen nicht im Depot versteckt, sie werden bewusst zur Schau gestellt. Aber nüchtern und damit entehrt. Die abmontierten historischen Persönlichkeiten sollten nicht auf dem Mistplatz der Geschichte, sondern im Museum landen. So sind es 120 Statuen, Skulpturen, Standbilder und Stelen, die im Rahmen der von der damaligen Museumschefin Andrea Theissen initiierten Dauerausstellung "Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler" gezeigt werden. Die Sammlung erhält seit der Eröffnung vor fünf Jahren immer noch Zuwachs, weil etwas gefunden oder entfernt wird oder sorgsam aufbewahrt werden sollte. Und für 2022 ist ein besonderes Ausstellungsstück zu erwarten, für das sogar ein weiterer Bereich der Zitadelle adaptiert wird.
Eine Statue von Arno Breker stellten die Briten in ihren Garten
Tatsächlich enthüllend und entlarvend ist, wie sich das Geschichtsbild im Laufe der Zeiten geändert hat - oder bewusst gebrochen werden sollte. Den Auftakt bilden Männer, die für den preußischen Militarismus stehen. Wilhelm II. hatte diese Denkmäler für die Siegesallee 1895 in Auftrag gegeben, die Adolf Hitlers Architekt Albert Speer im Vorgriff auf die "Reichshauptstadt Germania" in den Berliner Tiergarten versetzen ließ.
Eine Direktive des Alliierten Kontrollrates forderte 1946 die Beseitigung militaristischer und nationalsozialistischer Denkmäler aus dem öffentlichen Raum. Was aber nicht heißt, dass sie nicht wieder aufgestellt wurden. Eine der Statuen, die vom NS-Staatskünstler Arno Breker gestaltete Figur "Zehnkämpfer", gefiel offenbar den Briten so gut, dass sie diese auf einen Betonsockel im Garten vor ihrer Spandauer Kaserne setzten. Erst als Jahrzehnte später bei Straßenbauarbeiten die Statue im Weg stand, wurde ein genauerer Blick darauf geworfen. Dabei wurde auf dem Sockel eine Widmung entdeckt - bewusst abgedeckt: Groß prangt dort der Name Adolf Hitler, die Figur war ein Geschenk an seinen Reichssportführer. Die lebensgroße Statue steht nun mit freigelegter Beschriftung in der "Enthüllt"-Ausstellung.
Nach der Aufforderung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs kamen die Skulpturen der Siegesallee zuerst ins Berliner Lapidarium, schließlich ließ sie der Landeskonservator 1954 im Park des Schlosses Bellevue vergraben. So entgingen sie der Zerstörung und kamen bei Bauarbeiten 1978 zum Vorschein - sogleich wanderten Statuen ins Depot nach Spandau, wo sie mehr als ein Vierteljahrhundert vor der Öffentlichkeit versteckt wurden.
Zwischen den Skulpturen drehte "Rammstein" Szenen für ein Musikvideo
In der "Enthüllt"-Ausstellung entfalten sie eine monumentale Wucht angesichts ihrer Fülle. Preußische Könige, Kurfürsten und Feldherren sind dort ebenso versammelt wie berühmte Denker und Forscher wie Immanuel Kant und Alexander von Humboldt. Einzige Frau ist Königin Luise, die Gattin von Friedrich Wilhelm III. In Spandau wurden viele bewusst vom Sockel geholt - ein Denkmalsturz, der es ermöglicht, den einst Mächtigen und Großen auf Augenhöhe zu begegnen. Spuren ihrer Geschichte - Bruchstellen, Einschusslöcher und Verschmutzungen - wurden bewusst nicht getilgt. Bei einer Büste sieht man, dass sie jahrelang als Dekorationsstück in einer Kneipe stand, in der viel geraucht wurde.
In dieser Ausstellung ist Berühren nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. "Das ist eine Form der Aneignung", sagt Urte Evert, die das Museum seit 2017 leitet. Denn im Deutschen bedeute der Begriff "begreifen", dass man etwas anfassen, aber auch verstehen könne. "Genau das passiert in diesem Museum. Das heißt, es ist eben doch ein lebendiger Ort und keiner, in dem das Ganze verstaubt." Die Volkskundlerin und Militärhistorikerin will das Museum öffnen, die Denkmäler in einen neuen Kontext setzen und Diskussionen auslösen. Das ist ihr gelungen, als sie vor zwei Jahren der Band Rammstein erlaubte, auch in dieser Ausstellung Szenen für einen Musikfilm zu drehen, der sich mit deutscher Geschichte beschäftigte und als "Skandalvideo" Schlagzeilen machte. Es sei doch "cool, wenn Rammstein Spandau entdeckt", konterte sie Kritik.
Die meisten Diskussionen werden vor dem Lenin-Kopf geführt, der in der DDR Briefmarken zierte und bundesweite Bekanntheit durch den Film "Good Bye, Lenin!" erlangte. Jahrelang hatte die damalige Museumsleiterin Theissen dafür gekämpft, dass das im November 1991 aus dem Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain abtransportierte Lenin-Denkmal wieder ausgebuddelt wird. Der überdimensionale Kopf wurde in Müggelheim vor den Toren Berlins vergraben, als man den Revolutionär und Begründer der Sowjetunion nach der Wiedervereinigung loswerden wollte. Denn die aus ukrainischem Granit mit Stahlbeton bestehende Büste des sowjetischen Bildhauers Nikolai Tomski wiegt 3,5 Tonnen und wäre zu groß gewesen, um sie zu sprengen.
Schüler durften Lenin auf den Kopf steigen
Rund um diese Figur entzünden sich Debatten, die zum Teil bereits in den Neunzigerjahren geführt wurden. Musste man das Lenin-Denkmal wie auch den Palast der Republik wirklich abreißen? Zeigte das Denkmal nicht mustergültig die Erstarrung des Sozialismus wie eine Art Mahnmal? Es komme immer wieder die Frage, ob das nicht eine Siegerpose sei, weil er auf der Seite liege, sagt Evert. "Hier sind die Denkmäler so ausgestellt, wie sie vorgefunden wurden." Die vier Schraubbolzen, die für die Demontage angebracht wurden, sind noch gut zu sehen.
Im Angesicht Lenins werden auch die klassischen Ost-West-Debatten weitergeführt, erzählt Evert. Dass die Büste wieder ausgegraben wurde, gefällt vielen nicht. Andere wiederum stoßen sich daran, dass Lenin nun im Museum steht. "Die Lenin-Geschichte ist typisch und steht symbolisch dafür, wie viele Wunden es nach der Wiedervereinigung gab. Hier bricht es auf." Evert will, dass Auseinandersetzungen mit der Geschichte nicht nur in Form von Diskussionen stattfindet. Sie erlaubte Schülern, auf die Figur zu klettern - Flüchtlingskindern, die in diesem Museum etwas über die deutsche Geschichte und ihren Umgang damit lernen sollen. So kann man in diesem Land nicht nur den Parlamentariern aufs Dach, sondern auch Lenin auf den Kopf steigen. Oder ihn anfassen, eine Bank lädt zum Verweilen ein.
Eine besondere historische Dekonstruktion mit den Mitteln der Kunst war am 1. Dezember zu beobachten, als die Tänzerin Anna Rose, begleitet von Mitgliedern des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und Beethoven-Klängen, eine lebensnahe Interaktion mit den Skulpturen und Objekten wagte. Sie tanzte auf einem Gedenkstein, der an die Machtübernahme von Adolf Hitler am 30. Januar 1933 erinnern sollte - geschmückt mit germanischen Symbolen wie der Irminsul und einer zu einer stilisierten schwarzen Sonne umfunktionierten Swastika, einem Hakenkreuz. Nach Kriegsende wurde der Granitkoloss gleich neben seinem Aufstellungsort in der Argentinischen Allee im Berliner Stadtteil Zehlendorf vergraben und 2011 geborgen. "Viele wussten, wo dieser Stein vergraben war. Genauso wie beim Lenin-Kopf", sagt Evert. Auch die Relikte der Siegerallee wurden verbuddelt.
Hitlers Bronze-Kopf in einer Schuhschachtel
Erst in diesem Jahr kam ein Hitler-Kopf - wiederum in Zehlendorf - zum Vorschein. Eine Familie, die eine Villa gekauft hatte, entdeckte bei Gartenbauarbeiten die Bronze-Büste in der Erde und bat die Museumsleiterin sichtlich verzweifelt, das Stück abzuholen. "1945 gab es plötzlich keine Nazis mehr, und man hat die Dinge, die daran erinnern konnten, dass man eben doch Nazi war, schnell im Garten vergraben. Das war auch eine gewollte Auslöschung von denen, die etwas verstecken wollten", sagt Evert. Während sie selbst Hitlers Bronze-Kopf in einer Schuhschachtel auf dem Beifahrersitz ihres Autos nach Spandau brachte, löst ein weiterer Fund aus der NS-Zeit gröbere Transport- und Unterbringungsprobleme aus. 2015 wurden die "Schreitenden Pferde" bei einer Razzia in Rheinland-Pfalz entdeckt. Die überlebensgroßen Skulpturen des Bildhauers Josef Thorak standen einst vor Hitlers Reichskanzlei in Berlin. Die Bundesrepublik hatte die Herausgabe in einem sechs Jahre andauernden Rechtsstreit erwirkt.
Als sich die Behördenvertreter vor wenigen Wochen an Evert wandten, ob sie die Thorak-Pferde übernehmen wolle, "da konnte ich schlecht sagen: Nein danke. Das heißt, ich muss jetzt damit umgehen", sagt die Museumsleiterin. Sie sucht noch nach Wegen, diese NS-Kunst "in einer Art und Weise auszustellen, die weder mystifizierend noch glorifizierend wirkt". Nicht vor Mai 2022 wird der Transport der Skulpturen, die sich derzeit in einem Depot der Polizei befinden, nach Spandau stattfinden, frühestens im Herbst werden die Thorak-Pferde ausgestellt. Weil der Platz in den bestehenden Ausstellungsräumen zu knapp ist, wird ein eigener Platz dafür in der Bastion Königin in der Zitadelle vorbereitet.
Dabei könnte sogar Raum geschaffen werden, denn es besteht Interesse, zumindest ein riesiges Monument abzubauen und wieder am alten Ort aufzustellen: Es geht um das Ernst-Thälmann-Denkmal im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg. Die 1986 errichtete Kolossalstatue mit dem Porträt des KPD-Führers Thälmann steht noch, aber die zwei bronzenen Stelen ließ der Rat des Bezirkes im Juli 1990 entfernen. Auf ihr befinden sich Inschriften von Thälmann und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, "der sich damit selbst ein Denkmal schuf", sagt Evert und fügt hinzu: "Er wollte sich präsentieren wie Wilhelm II. mit der Siegesallee. Das ist eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte."
Vom Bezirk Pankow, wo es einen linken Bezirksbürgermeister gibt, wurde vor Kurzem eine Anfrage an die Museumsleiterin gerichtet, ob nicht die Stelen zurückgebracht werden könnten. "Über Thälmann könnte man ja noch diskutieren, aber Honecker? Und trennen kann man das nicht. Also, diese Tür ist zu."
Ein Fall von Geschichtsauslöschung
Eines der Ausstellungsstücke ist dagegen ihrer Ansicht nach ungerechtfertigterweise entfernt worden. Der sogenannte Aschenbecher, das Glasprisma des Künstlers Lothar Kwasnitza, das seit 1969 in der DDR-Gedenkhalle Unter den Linden aufgestellt war. Als die Umgestaltung der Neuen Wache nach 1990 anstand, ließ der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl - ein promovierter Historiker - sämtliche DDR-Elemente entfernen und stellte eine stark vergrößerte Kopie der Plastik "Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz auf.
Evert findet diesen Fall von Geschichtsauslöschung problematisch, weil es nie eine öffentliche Debatte darüber gab. "Dass ein Kanzler so eine Entscheidung treffen darf, verstehe ich nicht." Dass die Pietà nun dort steht, ist wiederum ein Grund dafür, dass zwei andere Statuen in Spandau gelandet sind. Denn die Erben von Kollwitz wollten keine Militärs in der Nähe der Neuen Wache und wehrten sich gegen die Standbilder der Generäle Scharnhorst und Bülow, die in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gekämpft hatten. Im Juni dieses Jahres wurden die beiden Denkmäler abgebaut und bekamen einen Platz in der Ausstellung.
Im Zuge der "Black Lives Matter"-Bewegung in den USA und den darauf folgenden Demontagen von Statuen in Großbritannien und Belgien flackerte die Debatte über Denkmäler wieder auf. Evert ist nicht in jedem Fall für ein Abtragen oder eine Bilderstürmerei. Aber in Bezug auf das Lueger-Denkmal in Wien hat sie eine klare Meinung: "Das Ding sollte definitiv weg", sagte sie bei einer Diskussion in der österreichischen Hauptstadt im November.
Der 1910 verstorbene Wiener Bürgermeister Karl Lueger war ein Antisemit und wurde von Hitler in "Mein Kampf" als Vorbild erwähnt. Seit Jahren gibt es eine Debatte darüber, warum Lueger überlebensgroß auf einem Ehrenmal in der Innenstadt thront - auf das immer wieder der Schriftzug "Schande" aufgesprüht wird. Es steht auf einem Platz, der auch seinen Namen trägt. Jener nach ihm benannte Teil der Ring-Straße wurde 2012 umbenannt - vor allem deshalb, weil dort die Universität Wien ihren Sitz hat. Für die internationale Korrespondenz ist das dann doch als zu peinlich empfunden worden.
Evert war bei dieser Diskussionsrunde in Wien die Einzige, die klar für die Abtragung des Denkmals eintrat. Die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler wandte sich gegen "Extrempositionen", sie will vielmehr eine künstlerische Kontextualisierung, mit deren Umsetzung sie selbst erst im Jahr 2023 rechnet. Mit der Umbenennung will man sich in Wien ebenfalls noch Zeit lassen und erst die Zustimmung der Anrainer einholen.
Auch im Spandauer Museum brach vor Kurzem vor dem Lenin-Kopf ein Streit aus zwischen Besuchern. Es ging darum, dass im März entschieden wurde, die Mohrenstraße in Berlins Mitte in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umzubenennen. Genau solche Diskurse wünscht sich Evert in ihrem Museum. Sie plant bereits eine neue Ausstellung mit Straßenschildern - alten und neuen nach der Umbenennung. "Das Reinwaschen der Geschichte funktioniert nicht, indem Symbole entfernt werden." Nicht nur Denkmäler können toxisch und Debatten darüber giftig sein.