Es ist interessant, wie sich die Wahrnehmung von Verbrechen verändert, wenn man länger damit zu tun hat. Früher hatte ich Angst, nachts auf dem Heimweg oder beim Joggen im Park überfallen zu werden. Heute weiß ich: Angst muss man als Frau eher vor Ehemännern, Freunden, Club-Bekanntschaften haben. Und noch etwas weiß ich, seit ich vor Gericht die großen und kleinen Dramen der menschlichen Existenz beobachte. Man ist weniger weit davon entfernt, ein Verbrechen zu begehen, als man denkt.
Erna S., 69, Rentnerin, sitzt zwei Tage bevor sie goldene Hochzeit feiern sollte, in Berlin auf der Anklagebank. Wegen Totschlags an ihrem Ehemann Helmut.
Die beiden heißen in Wirklichkeit nicht Erna und Helmut. Ich nenne sie so, weil die Tat lang her ist, aber auch, weil die Namen gut zu dem durchschnittlichen Leben passen, das sie 50 Jahre lang miteinander teilten. Sie lernten sich in der Schule kennen, heirateten jung, wie es zu ihrer Zeit üblich war. Er war Busfahrer, sie kümmerte sich um die vier Kinder. Die beiden wollten, dass alles schön und harmonisch ist, die nicht so schönen Dinge verdrängte man, Kriegsgeneration. So erfuhr eine Tochter erst im Prozess gegen ihre Mutter, dass sie ein uneheliches Kind war. Erna S. hatte das Baby, das aus einer Affäre stammte, in die Ehe mit Helmut gebracht.
Abgesehen davon muss diese Beziehung so alltäglich gewesen sein, dass der Notarzt, als Helmut tot am Küchenboden lag, Erna hatte ihm ein Messer in die Schulter gestochen, nicht besonders alarmiert war. Er dachte: Herzinfarkt. Erna S. sagte: "Bei uns ist alles in Ordnung."
Und das war es ja die längste Zeit. Als die Kinder aus dem Haus waren, lebten die beiden miteinander und aneinander vorbei. Redeten, schwiegen, motzten sich bei Kleinigkeiten an, tranken Alkohol gegen die Einsamkeit, er Schnaps, sie Wein. Der Tattag begann wie immer. Frühstück, Katze füttern. Er brachte sie zum Arzt, danach kochte sie Mittagessen. Mittagsschlaf. Am Nachmittag Würfelspiel, am Abend wollten sie einen Film gucken. Erna S. freute sich auf den Film, Helmut S. freute sich auf den Weinbrand. Erna S. zufolge trank er zu viel, sie begann zu schimpfen. Er schimpfte zurück, sie nerve ihn, er wäre sie am liebsten los.
Danach hätte es so weitergehen können wie an allen Tagen zuvor und wie in so vielen Ehen. Doch irgendetwas kippte, und es erschreckt mich bis heute, weil Erna S., die in rosa Seidenbluse vor Gericht saß, nicht sagen konnte, was. Und weil niemand weiß, ob es in einem selbst nicht auch so einen Kipppunkt geben könnte. Jedenfalls holte sie ein Messer aus der Küche und stieß zu. Danach machte sie sauber und klebte dem toten Helmut ein Pflaster über die Einstichstelle. Die wurde bei der Obduktion entdeckt. Erna S. wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sie vermisse Helmut, schluchzt sie. "Er war immer lieb."