Kolumne "Vor Gericht":"Ich kann nachts nicht schlafen"

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(Foto: Steffen Mackert)

Viele Menschen, die vor Gericht stehen, leiden unter psychischen Erkrankungen. Warum nimmt das Recht so selten Rücksicht auf sie?

Von Ronen Steinke

War sie's? War sie's nicht? "Ich war das definitiv nicht", sagt Nicole T. zu dem Vorwurf, sie sei drei Mal schwarzgefahren. Sie wirkt zerbrechlich, wie sie da auf dem Stuhl für Angeklagte sitzt, ganz vorne auf der Kante, wackelig, blass, die Haare weißblond, die Kleidung dafür tiefschwarz.

Ob sie's war, ist unklar. Schnell klar wird dagegen, dass dies noch das geringste Problem in ihrem Leben ist. Nicole T. sagt: Sie habe ein Alibi für die Zeit, in der sie angeblich von Kontrolleuren in der U-Bahn erwischt wurde. Sie habe in dieser Zeit nämlich kaum das Haus verlassen wegen ihrer klinischen Depression und Angststörung, die bis vor Kurzem in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden mussten. Während sie das erzählt, klingelt ihr Handy. Die Richterin seufzt. Nicole T. hat eine gesetzliche Betreuerin, die ihre Post öffnen und sie bei Behördengängen unterstützen soll, weil sie beides allein nicht mehr kann. "Aber dort verpassen Sie ja immer die Termine", schimpft die Richterin, vor der eine Akte liegt.

Die Richterin schimpft über ihre Verspätung. "Ich kann nachts nicht schlafen", sagt Nicole T. entschuldigend

Unter psychischen Problemen leiden viele Menschen in Deutschland. Wer sehr krank ist, auf den nimmt das Strafrecht auch Rücksicht. Wer zum Beispiel Stimmen hört, unter einer paranoiden Schizophrenie leidet, sodass er oder sie "unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln", wie es im Gesetz heißt, der bekommt eine geminderte Strafe. Oder auch gar keine. Aber diese Hürde liegt hoch. Sehr hoch.

Wer "nur" so krank ist wie Nicole T., mit einer sogenannten Volkskrankheit, unter der jeder vierte Mensch im Laufe seines Lebens einmal leidet, auf den nimmt das Recht nicht unbedingt Rücksicht. Nicole T. hat nun eine Geschichte, die sie erzählt: Jemand habe ihren Ausweis gestohlen und gebe sich damit gegenüber U-Bahn-Kontrolleuren als sie aus. Ein Identitätsdiebstahl. Sie, Nicole T., sei das Opfer. Das habe sie auch schon bei der Polizei angezeigt. Belege hat sie leider keine. "Meine aktuellen Antidepressiva sind sehr stark", sagt sie entschuldigend. Die Richterin hat ihr keinen Pflichtverteidiger beigeordnet. Also muss sie sich selbst verteidigen.

Schuldig? Unschuldig? Das weiß die Richterin am Ende auch nicht. Also setzt sie einen zweiten Prozesstermin an. Sie will die Ticket-Kontrolleure als Zeugen befragen, ob sie sich an Nicole T. erinnern können. Aber die Kontrolleure kommen nicht. Nur Nicole T. kommt wieder. Sie sitzt wieder auf dem Stuhl. Die Richterin schimpft mit ihr, weil sie sich verspätet habe. "Ich kann nachts nicht schlafen", sagt sie entschuldigend. Dann wird das Verfahren eingestellt, aus Mangel an Beweisen. Nicole T. darf zurück ins Bett.

Kolumne
:Vor Gericht

In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. Alle Folgen finden Sie hier.

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