Kolumne: Vor Gericht:Alles gesagt

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(Foto: Steffen Mackert)

Angeklagte haben das Recht auf das letzte Wort, so steht es in der Strafprozessordnung. Aber muss man deswegen fünf Tage lang reden?

Von Verena Mayer

Wer auf der Anklagebank sitzt, erlebt viele Momente der Ohnmacht. Es bestimmen andere, wie der Prozess verläuft, die Richterin, der Staatsanwalt, die Verteidiger. Es gibt aber einen Moment im Strafprozess, der allein den Angeklagten gehört. Das letzte Wort. Wer auf der Anklagebank sitzt, hat ein Recht darauf, so steht es in der Strafprozessordnung. Wenn alles gesagt, alle Fragen beantwortet sind, dann dürfen sich Angeklagte noch einmal den Raum nehmen, der ihnen zusteht.

Wäre das letzte Wort ein künstlerisches Genre, müsste man sagen: eine tolle Form, aber schwer auszufüllen. Man kann überheblich wirken oder so, als empfinde man mehr Mitleid für sich als für die Opfer. Man kann die Arbeit der Verteidigung ruinieren oder das Gericht nerven, das man für sich gewinnen will. So wie der Buchhalter, der wegen frisierter Bilanzen vor Gericht saß und sich erst über seinen unfähigen Chef ausließ, dann über seine angeblich geldgierige Freundin und nach dreißig Minuten mit den Worten endete: "Ich hoffe, dass ich das Bild von mir ändern konnte." Das hat er bestimmt. Vor Gericht zählt nicht der erste Eindruck, sondern der letzte.

Ein Angeklagter sagte einmal nur: "Der Drops ist gelutscht."

Man erlebt daher immer weniger Angeklagte, die von ihrem letzten Wort Gebrauch machen. Die meisten schütteln den Kopf, wenn sie auf ihr Recht hingewiesen werden, oder nuscheln so etwas wie "Ich schließe mich den Worten meines Verteidigers an". Ein Angeklagter sagte einmal nur: "Der Drops ist gelutscht." Dabei wäre so viel zu sagen. Angehörige von Opfern warten oft sehnsüchtig darauf, dass endlich etwas von der Anklagebank kommt. Reue oder zumindest eine Erklärung. Wenn Angeklagte den gesamten Prozess über schweigen, ist es besonders schlimm, wenn auch das letzte Wort ungesagt verstreicht.

Das heißt aber nicht, dass man es so machen muss wie Michael Jauernik. Der 71-Jährige hatte eine lange Laufbahn als Bankräuber hinter sich, als er 2019 in Hamburg vor Gericht stand. Jauernik hat in den 70er-Jahren begonnen, Banken zu überfallen, dazwischen saß er in Haft, wo er sich von einem inhaftierten RAF-Terroristen Bücher geben ließ (Sartre, Hegel, Brecht), literarische Texte schrieb und sich als Gefängnisaktivist betätigte. Als er irgendwann wieder raus durfte, überfiel er wieder eine Bank und wurde verhaftet. Als Angeklagter trat er nicht nur im schicken dunklen Anzug und mit Sonnenbrille auf, er brauchte auch sehr lang für sein letztes Wort. Fünf Prozesstage nämlich.

Irgendwann stellte ihm die Richterin das Mikrofon ab, weil sie darin nur eine Show sah. Jauernik ging deswegen in Revision. Dort bekam er zwar auch nicht recht, aber er kann seither eine Art Titel für sich beanspruchen. Den Rekord im letzten Wort.

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In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. Alle Folgen finden Sie hier.

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