Bevor der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer aufbrechen kann, um das Bruttoinlandsprodukt zu steigern, muss eine Menge erledigt werden. Es muss ein Frühstück bereitet, Kaffee gekocht, die Tasse gespült, die Toilette geputzt werden. Je nach Lebenssituation sind Kinder anzuziehen, Eltern zu pflegen, ein Garten zu gießen. Viel zu tun.
Trotzdem ist fast immer die bezahlte Erwerbsarbeit gemeint, wenn von "Arbeit" gesprochen, geschrieben oder geforscht wird. Für die Aufgaben rund um Haushalt, Kinder, Pflege hat sich inzwischen der Begriff Care-Arbeit etabliert, was man vielleicht mit Fürsorgearbeit übersetzen kann. 24,5 Stunden pro Woche arbeiten die Deutschen im Schnitt unbezahlt, nur 20,5 Stunden entfallen auf bezahlte Tätigkeiten, mitberechnet sind Rentner, Studierende - und Hausfrauen.
Arbeit, für die es keine Entlohnung gibt, wird vorrangig von Frauen erledigt. Das ist sattsam bekannt und weltweit der Fall: Nach Berechnungen der Hilfsorganisation Oxfam erledigen Frauen und Mädchen weltweit mehr als zwölf Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit am Tag. Würde man ihnen dafür auch nur den Mindestlohn bezahlen, würde das mehr als elf Billionen Dollar im Jahr kosten. Während deutsche Männer für etwa zwei Drittel ihrer Arbeitsstunden Gehalt beziehen und ein Drittel unbezahlt leisten, ist es bei Frauen anders herum. Besonders groß ist die Differenz bei Eltern minderjähriger Kinder: Nach manchen Berechnungen verrichten Mütter viermal so viel Fürsorgearbeit wie Väter. Deshalb ist in diesem Jahr - analog zum etablierten Equal Pay Day, an dem auf die Gehaltslücke zwischen den Geschlechtern hingewiesen wird - ein Equal Care Day ausgerufen worden, an dem auf diesen Fürsorgeabstand der Geschlechter hingewiesen werden soll.
Produktiv ist derzeit nur, wer ein essen kocht und es dann verkauft.
Nun sind das alles Schätzungen, die man ähnlich wie die Formeln, mit denen jährlich die Gehaltslücke berechnet wird, angreifen kann; und vermutlich käme man mit einer anderen Methodik zu anderen Ergebnissen. Nicht bestreiten aber lässt sich, dass diese Tätigkeiten für eine funktionierende Gesellschaft unverzichtbar sind. Wer von niemandem geboren und groß gezogen wird, wird nie ein produktives Mitglied der Gesellschaft. Wer nichts isst, kann nichts arbeiten. Wer sich nie erholt, ist bald krank und unterstützungsbedürftig.
Momentan ist es jedoch so, dass diejenigen, die für all dies sorgen, wirtschaftlich und sozial bedeutsame Kosten einfahren - etwa weil sie nur in Teilzeit arbeiten können und weniger Freizeit haben. Diese Kosten müssen gerechter verteilt werden, zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen den Gesellschaftsschichten. Um das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern aufzulösen, hat sich die Bundesrepublik eine Familienpolitik verschrieben, die Mütter genau wie Väter in der Berufstätigkeit hält. Das ist nicht verkehrt, es löst aber offensichtlich das Problem nicht. Und auch wenn sich ein gut verdienendes Großstadtpaar die Arbeit unter Einsatz von Erzieherinnen, Putzfrau und Pizzaboten untereinander gerecht aufteilen kann: Wer unterdurchschnittlich im Kindergarten, in der Gebäudereinigung oder beim Lieferdienst bezahlt wird, kann es sich kaum leisten, die eigene Fürsorgearbeit weiter zu delegieren. Die kommt einfach noch oben drauf.
Welche Maßnahme hier mehr Gerechtigkeit schaffen könnte - das bedingungslose Grundeinkommen, die 20-Stunden-Woche, Gehälter für Hausfrauen oder etwas ganz anderes - muss endlich umfassend und intensiv diskutiert werden. Erste Ansätze gibt es in den Parteien. Doch damit die Debatte von der gefühlten zur konkreten Ebene kommt, braucht es ein funktionierendes Rechenmodell, das aussagekräftige Ergebnisse liefert und die unbezahlte Arbeit erst einmal sichtbar macht, als Teil des Wirtschaftssystems. Ein solches Modell gibt es nicht - auch weil sich kaum Ökonomen dafür zuständig fühlen. In volkswirtschaftlichen Kennziffern wie dem Bruttoinlandsprodukt wird die Wertschöpfung durch unbezahlte Arbeit nicht miteinberechnet. Demnach ist produktiv, wer ein Essen kocht und es dann verkauft. Wer ein Essen umsonst für seine Familie kocht, existiert in diesem Sinne nicht.
Nach der Berechnung des Statistischen Bundesamtes - laut dem die Wirtschaftsleistung eines Landes unter den gegebenen Umständen nicht sinnvoll analysiert werden kann - beträgt die Sorgearbeit in Deutschland etwa ein Drittel der im Bruttoinlandsprodukt ausgewiesenen Wertschöpfung. Ökonomie ist definiert als Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen dienen. Die Fürsorge für andere wird oft als Liebes-Job interpretiert, an den man nicht die materiellen Maßstäbe der "echten" Wirtschaft legen solle. Es ist schön und notwendig, dass Menschen Dinge tun, für die sie nichts bekommen. Es ist aber weder schön noch gerecht, wenn die Belastung, die ihnen dabei entsteht, nur als Tribut an die Gesellschaft behandelt wird.