Kampf um EU-Rechte nach dem Brexit:Gekommen, um zu bleiben

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3,7 Millionen EU-Bürger leben in Großbritannien und etwa 1,3 Millionen britische Staatsbürger in der EU. (Foto: AP)

Tanja Bültmann ist EU-Bürgerin und vom Brexit betroffen. Sie ist Deutsche, lebt in England und will auch nach dem Ausscheiden aus der EU dort nicht weg. Dafür kämpft sie.

Von Verena Mayer, Berlin

Wenn die deutsche Professorin Tanja Bültmann in London unterwegs ist, achtet sie darauf, dass man ihr Haar nicht sieht. Das liegt daran, dass Bültmanns Haare lang und rot und leicht erkennbar sind. Erkennbar will sie aber nicht immer sein, denn sie macht sich in Großbritannien derzeit nicht nur Freunde; erst vor Kurzem lauerte ihr vor dem Parlament in London wieder ein Stalker auf. Denn Tanja Bültmann ist nicht nur gegen den Brexit, sie setzt sich auch öffentlich für die EU-Bürger ein. Dafür, dass diese ihre Rechte behalten und so weiterleben können wie bisher.

Bültmann,39, ist eine der prominentesten Stimmen jener EU-Bürger, die vom Brexit betroffen sind. An diesem Frühlingstag ist Bültmann in Berlin, um mit deutschen Politikern über das Thema zu sprechen, danach kommt sie ins Café "Einstein Unter den Linden" gehetzt. Sie bestellt ein Bier, nicht ohne allerdings vorher zu fragen, ob das auch in Ordnung sei, während des Interviews Bier zu trinken. Britische Höflichkeit. Seit zehn Jahren lebt sie in Newcastle, wo sie an der Northumbria University Geschichte unterrichtet.

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Wie es dazu kam, dass eine deutsche Historikerin in Großbritannien nun eine eigene Kampagne hat und deswegen von vielen angefeindet wird, ist eine lange Geschichte. Sie beginnt damit, dass Bültmann, die ursprünglich aus Bielefeld kommt, Anfang der Neunzigerjahre mit ihrer Großmutter nach Schottland reiste und sich "in das Land verliebte". Sie studierte mit dem Erasmus-Programm in Edinburgh, bekam einen Job an der Uni in England, verließ Deutschland und ließ sich in Großbritannien nieder, das zu ihrer neuen Heimat wurde. Eine Geschichte, wie sie ständig vorkommt, Leute ziehen von einem Land ins andere und arbeiten dort, Alltag in der Europäischen Union. Doch seit dem Brexit-Referendum ist dieser Alltag für fünf Millionen Menschen nicht mehr das, was er einmal war. 3,7 Millionen EU-Bürger leben in Großbritannien und etwa 1,3 Millionen britische Staatsbürger in der EU, nach den Briten und Iren sind sie die größte Gruppe, die vom Brexit betroffen sein wird. Für Tanja Bültmann ist es allerdings auch die Gruppe, um die es in den Verhandlungen am wenigsten ging.

Zwar ist vieles im Austrittsabkommen geregelt, einiges ist aber noch immer unklar, und für den Fall eines ungeregelten Brexits gibt es noch keinen Plan, wo diese fünf Millionen Menschen dann arbeiten können, wie es mit ihrem Aufenthalt aussieht, was mit ihrer Gesundheitsversorgung passiert. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Bültmann nicht "herzzerreißende Geschichten" von Menschen hört, die seit mehr als zwei Jahren mit dieser Ungewissheit leben. Da ist die 84-jährige Frau aus Dänemark, die seit fast sechzig Jahren in Schottland wohnt, dort Kinder hat und sich nun bewerben muss, im Land bleiben zu dürfen; da ist der Enkel einer Holocaust-Überlebenden, der nun den deutschen Pass beantragt hat, um Europäer zu bleiben, wie er Bültmann erzählte; da sind Leute, die aufgrund der ständigen Unsicherheit so verzweifelt sind, dass sie sich mit Selbstmordgedanken quälen.

Die Bürger, die sich heute von Europa verlassen fühlen, sind die EU-Skeptiker von morgen

Ihre roten Haare versteckt Tanja Bültmann inzwischen oft; sie will auf der Straße lieber nicht erkannt werden. (Foto: privat)

Schon sehen manche in Großbritannien eine Art Windrush-Generation entstehen. So heißen jene Einwanderer aus dem Commonwealth, die nach dem Krieg dem Ruf gefolgt waren, im Vereinigten Königreich zu leben und zu arbeiten. Sie haben zwar ein Bleiberecht, oft aber lückenhafte Papiere. Als die Ausländergesetze in den vergangenen Jahren verschärft wurden, führte das dazu, dass viele ihre Wohnungen, ihre Arbeit oder Rente verloren, manchen wurden sogar lebenswichtige medizinische Behandlungen verweigert. Wer sagt, dass es nicht auch den EU-Bürgern so gehen könnte, die sich jetzt alle registrieren lassen müssen? Was, wenn sie ihren alten Pässe nicht mehr haben, irgendwo ein Stempel fehlt, zu einer Zeit ins Land kamen, als Großbritannien noch nicht Mitglied der EU war?

Viele versuchen nun hektisch, einen zweiten Pass zu bekommen, in Berlin wird man neuerdings immer wieder zu Einbürgerungspartys von Briten eingeladen. Doch das können nicht alle, Länder wie zum Beispiel Österreich lassen keine doppelte Staatsbürgerschaft zu. Und das könne auch nicht das Ziel sein, sagt Bültmann. Denn die fünf Millionen, das seien doch diejenigen, die tagtäglich die Werte der EU leben, durch ihre Entscheidung, sich überall in Europa niederzulassen und dort zu arbeiten. "Und die werden nun am Scheiterhaufen des Brexits verbrannt, weil die EU sich nicht für sie einsetzt."

Bültmann will, dass die EU-Bürger hier wie dort so weiterleben können wie bisher, geschützt von der EU und einheitlichen Regeln. Dafür twittert sie, schreibt Artikel, geht auf die Straße. Doch inzwischen ist sie in Großbritannien selbst zur Zielscheibe geworden. Bültmann bekommt Hasspost und Drohungen, sie wird beschimpft, jemand schreibt, auf sie warte dasselbe Schicksal wie auf Jo Cox. Die Politikerin der Labour Partei war 2016 nach einer Bürgersprechstunde von einem Brexit-Fanatiker angeschossen und erstochen worden. Als Bültmann neulich bei einer Veranstaltung vor dem Parlament in London sprach, sah sie, wie ein Mann sie beobachtete. Ihr folgte, nachdem er sich unauffälligere Kleidung angezogen hatte. Seitdem achte sie darauf, dass sie ihre Haare nicht offen zeigt.

Am meisten setze ihr aber zu, dass die EU die Rechte der EU-Bürger gerne als "Rosinenpickerei" abtue. "Fünf Millionen Menschen sind aber keine Rosinen." Denn eines werde gerade jetzt, vor der Europawahl, viel zu wenig beachtet, sagt Tanja Bültmann. Die Bürger, die sich heute von Europa verlassen fühlen, sind die EU-Skeptiker von morgen. "Das ist ein Einfallstor für Populisten." Dann muss sie weiter. Als sie hinausgeht in den Berliner Nachmittag, zieht sie eine Mütze über ihr langes, rotes Haar.

© SZ vom 20.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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