Kolumne: Vor Gericht:Wilde Mischung

Lesezeit: 2 min

Wer im Gerichtssaal säuberlich getrennt wird, trifft sich davor. Mag sein, dass die Gesellschaft gespalten ist - auf dem Gerichtsflur findet sie zusammen.

Von Verena Mayer

Die interessantesten Dinge finden oft nicht im Gerichtssaal statt, sondern auf dem Weg dorthin. Dazu muss man wissen: Ein Gerichtssaal ist ein Ort, an dem fein säuberlich auseinandergehalten wird, was nicht zusammengehört. Zeuginnen dürfen den Saal nicht betreten, solange sie nicht ausgesagt haben, um nicht beeinflusst zu werden. Polizist eins darf nicht dabei sein, wenn sein Kollege, Polizist zwei, dem Gericht über die Ermittlungen erzählt. Fotografen müssen den Saal verlassen, sobald die Verhandlung beginnt, Angehörige werden des Zuschauerraums verwiesen, weil sie möglicherweise noch als Zeugen infrage kommen. Sie alle treffen dann auf dem Flur aufeinander. Die Zeuginnen, die Polizeibeamten, die Fotografen, die Familien von Tätern und Opfern.

Manche Leute warten still auf den Bänken, bis sie dran sind, manche tigern auf dem Flur auf und ab. Einige wollen den Gerichtsreporterinnen ausweichen, andere erzählen draußen vor dem Saal all das, woran sie sich drinnen angeblich nicht erinnern konnten. Ich habe erlebt, wie sich während eines Mordprozesses alte Nachbarn auf dem Gerichtsflur begegneten, und ich habe die Blicke gesehen, die die Mutter eines Ermordeten der Verlobten des mutmaßlichen Mörders zuwarf. Es gab Angeklagte, die auf dem Weg zum Saal mit Papierkörben und Wasserflaschen um sich warfen. Im Kölner Landgericht prügelten sich einmal zwei Nebenkläger auf dem Flur mit einem Angeklagten, und der Notarzt musste kommen.

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Selbst auf den Gängen eines Amtsgerichts spielen sich manchmal Szenen ab, die jeden Prozess toppen. Wie vor Saal B129 im Amtsgericht Tiergarten. Für neun Uhr steht die Verhandlung gegen einen selbsternannten Friedensaktivisten auf dem Terminplan. Er soll am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin Dinge über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine gesagt haben, die ein Staatsanwalt als volksverhetzend wertet. Für zwölf Uhr ist der Prozess gegen einen Straßenmusiker angesetzt, der bei einer Corona-Demo ein fahrbares Klavier gegen eine Polizeikette gesteuert haben soll. Und dazwischen muss die Justiz noch ein Urteil gegen sechs Leute sprechen, die eine junge Frau in der Straßenbahn rassistisch beleidigt hatten.

Weil die Verhandlungstermine sehr eng getaktet sind und der Flur vor Saal B129 sehr eng ist, passiert Folgendes: Die zahlreichen Begleiter des Friedensaktivisten verlassen triumphierend den Gerichtssaal, in dem der Angeklagte freigesprochen wurde, und stoßen draußen auf die wartenden Fans des Straßenmusikers. Die sind noch immer sehr aufgebracht über die Corona-Schutzmaßnahmen von 2021 und werden gleich noch viel aufgebrachter sein, weil das Gericht eine Geldstrafe wegen Landfriedensbruchs verhängen wird. Beide Gruppen versuchen nun, aneinander vorbeizukommen. Es ist laut und voll, Handys werden gezückt, man filmt sich gegenseitig. Es geht weder vor noch zurück, und irgendwann vermischen sich alle zu einem einzigen Strom von Menschen, die über Justiz und Politik schimpfen. Die Gesellschaft mag gespalten sein, auf dem Gerichtsflur findet sie zusammen.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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