Zum Tod von Lemmy Kilmister:Und es war doch Kunst

Bejahung und Heiterkeit waren dem Apokalyptiker und Agnostiker nicht fremd. Sein Glaube an die erhebende Kraft des Rock'n'Roll, die er auf allen Studioalben Motörheads besang, entspricht im Kern dem Glauben der radikalen Aufklärung. Im Song "Electricity" (2015) heißt es: "You need a bolt of rock / Severe toxic shock / Electricity deep in your soul."

Wie der Politphilosoph Eric Voegelin war Lemmy überzeugt, dass Nationalsozialismus und Kommunismus, ja alle modernen Ideologien, Ersatzreligionen sind. Allerdings ging er noch weiter als der Christ Voegelin. Auch die alten Religionen, ob Christentum, Judentum oder Islam, hielt Lemmy für Surrogate. Fürs Selberdenken. Fürs Selberfühlen. Fürs Selbermachen.

Mit seiner schlagenden Kombination aus pessimistischem Nihilismus und Glauben an die Kraft der Musik stand Lemmy in der Tradition der Kunstreligiosität Schopenhauers und Nietzsches. Letztere entwickelten die These, dass nur die Kunst das Leben erträglich mache - genau so erlebte Lemmy die Rock'n'Roll Music. Im gleichnamigen Lied (2010) heißt es: "Rock'n'Roll music is the true religion / Never let you down you can dance to the rhythm / Rock'n'Roll even gonna set you free / Make the lame walk and the blind to see".

Wie Elvis und Little Richard - nur lauter, hässlicher, schneller

Das ist mitnichten postmoderne Ironie. Postmodern an Motörhead war eher, dass die Band nicht das Neue, sondern allenfalls die Differenz in der erweiterten Wiederholung suchte. Sie machte, was schon Elvis und Little Richard machten, nur lauter, hässlicher, schneller. Ganz ohne Deleuze- oder Foucault-Lektüre hatte sie den Originalitätsglauben aufgegeben, lange bevor es ein Trend der schöpferisch erschöpften Indie-Copy-Paste-Szene wurde. In dieser Hinsicht waren Motörhead, die beständig ältere Songideen kaperten wie Freibeuter goldbeladene Galeeren, immer nahe dran an Appropriation Art und Minimal Music, ohne freilich derlei Label zu benötigen.

So war es nur folgerichtig, dass Lemmy 2015 in einem Interview zugestand, was man immer schon geahnt hatte. Dass nämlich Motörheads Musik das sei, was er lange abgelehnt und verspottet hatte: Kunst. Besser gesagt, eine Art Über-Kunst, ein tausendfach verstärktes und verzerrtes je ne sais quoi: "Ich habe meine Meinung geändert. Unsere Musik ist Kunst. Sie ist nicht intellektuell. Sie packt dich am Rückgrat und rüttelt dich durch wie eine Bombe, bevor im Kopf irgendeine Verarbeitung stattfindet. Wie sie das schafft, kann ich nicht erklären. Kunst kann man nicht erklären."

Lemmy Kilmister, Motörhead, ca 1978

Heilloser Spieler, Sünder, Herumtreiber, Speedfreak und Verächter der Religionen: Lemmy Kilmister.

(Foto: Fin Costello)

Der ansonsten notorisch skeptische und ernüchterte Autor dieser Zeilen kann diese Wirkung aus eigener Erfahrung bestätigen. Er traf Lemmy mehrere Male zum Gespräch und verdankt Motörheads Musik einige der besten Stunden seines Lebens. Ohne Pathos darf der vorliegende Text deshalb nicht enden. Die gänzlich unintellektuellen, ja kindlichen Tränen, die beim Verfassen flossen, vermag der Text nicht wiederzugeben. Verquastes Gestammel kapituliert vor der schroffen Evidenz eines jeden Motörhead-Songs, hochtrabende Exegesen verhalten sich zu Lemmy wie Alexander zu Diogenes in der Tonne.

Die Welt ist nun eine unselige Wüste

So lebe denn wohl, dunkler Gegenpapst, kynischer Buddha, weiser Rocker! Deine illusionslose Aufrichtigkeit und Dein hintersinniger, bitterer Witz werden uns fehlen. Nun erst ist die Welt wirklich zu dem geworden, als was Du sie besungen hast: eine unselige Wüstenei, in der wir frömmelnden Rattenfängern und Illusionsdienstleistern ohne Deinen Beistand ausgesetzt sind. Unser Mitgefühl gilt dem Gehörnten, der sich von nun an dort unten mit Dir wird messen lassen müssen.

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