Am Anfang der Lektüre steht das Staunen: Wie können die Deutschen nur immer wieder so gründlich danebenliegen, wenn sie sich die Zukunft ausmalen? Zum Beispiel herrscht in der Weimarer Republik bei linken wie bei rechten Denkern ein überschwänglicher Optimismus, man blickt vertrauensvoll in die Jahre, die nun folgen werden. Was folgt, sind Diktatur und Krieg. Etwa 15 Jahre später wiederum blicken die Autoren des Grundgesetzes mit großer Sorge in die Zukunft: Sie haben Angst um die eigene Sicherheit, Angst vor einem neuen Nationalismus. Zur gleichen Zeit wird in der sowjetisch besetzten Zone mit großem Optimismus und "einem Schwall von Zukunftspathos" ein Staat installiert, der nicht von Dauer sein wird.
Egal, auf welche Prognosen man blickt: Man sieht nur Irrtümer
Egal auf welche Zukunftsprognosen man blickt: Man sieht nur Irrtümer. Das Wirtschaftswunder sehen Politiker und Ökonomen ebenso wenig vorher wie die Wiedervereinigung, die Ölkrise, die 68er-Bewegung. Stattdessen hielt man es in den Sechzigern für wahrscheinlich, dass Menschen bald Bergwerke auf dem Mond betreiben und einen Großteil ihrer Nahrung in Tablettenform zu sich nehmen.
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Zum Glück begnügt sich der Historiker Joachim Radkau nicht mit diesem Staunen. Im Gegenteil: Sich über vergangene Fehlprognosen zu wundern und zu amüsieren hält er für "retrospektive Besserwisserei" und für "ein allzu billiges Vergnügen" - immerhin, ein Vergnügen. Sein Buch "Die Geschichte der Zukunft" möchte aber mehr bieten als das: Radkau, Autor von Biografien über Theodor Heuss und Max Weber, zeigt mit seinem 400-seitigen Essay, dass die Geschichte Deutschlands vielleicht im Nachhinein so aussehen mag, als folge sie einer konsequenten, durchgängigen Narration. Die Zeitgenossen jedoch wurden von den Entwicklungen überrascht, die wir heute für selbstverständlich halten. Und was sie für unausweichlich hielten, trat oft genug nicht ein. "Der Historiker soll Menschen vergangener Zeiten verstehen", schreibt Radkau. Das sei kaum möglich, wenn er nur retrospektiv nach Ursache und Wirkung suche. Vielmehr müsse man sich auch dafür interessieren, wovor die Menschen Angst hatten und worauf sie hofften, um ihnen wirklich nahezukommen. Unsere Handlungen werden durch unsere Zukunftsvorstellungen beeinflusst - selbst dann, wenn diese sich später als falsch herausstellen.
Radkau sammelt, rekonstruiert und interpretiert dabei nicht nur visionäre Entwürfe von Vordenkern und Science-Fiction-Autoren - wie es manche vergleichbaren Werke der Zukunftsforschung tun. Vielmehr beschreibt er die Vorstellungen von Politikern und Ökonomen, sucht nach Zukunftsvisionen in Presseartikeln, und nach den ganz alltäglichen, kleinen Ängsten und Hoffnungen der Menschen. Das Buch springt dabei munter zwischen unterschiedlichen Themen und Epochen hin und her; einzig Radkaus essayistisch formulierte Gedanken bilden den roten Faden durch diese Zukunftsgeschichte der BRD. Das Buch gerät dadurch stellenweise etwas unübersichtlich - aber langweilig wird es nie.
Die Stimmung war schon mal deutlich schlechter - etwa 1950, 1973, 2001 und 2008
Beides liegt auch daran, dass das Thema sich als uferlos erweist; schon deshalb, weil es per Definition gar nicht die einzige "Geschichte der Zukunft" geben kann, wie es im Titel heißt. Es sind vielmehr Hunderte verschiedene, gar nicht oder nur zum Teil eingetretene Zukünfte, die hier besprochen und abgewogen werden. Es geht um langlebige Visionen, die das Handeln von Politikern konkret beeinflusst haben, wie die Vereinigten Staaten von Europa, die Energiewende, die Kernfusion; dann wieder um Dystopien, die Jahrzehnte überdauerten: In den Fünfzigerjahren war die Angst vor einem Einmarsch "der Russen" für viele ein täglicher Begleiter, später grassierte die Sorge vor der Automatisierung: Würden Roboter bald Hunderttausende Arbeitsplätze vernichten?
Dabei zeigt sich, dass sich nicht nur Visionen als gute Ratgeber für das Handeln einer Gesellschaft erweisen können, sondern auch Ängste. Radkau spricht von einem "gesunden Pessimismus", der sich durch die deutsche Nachkriegsgeschichte ziehe und der nicht leichtfertig als "German Angst" abgetan werden dürfe. Bekanntlich hat sich das befürchtete Waldsterben als wirkmächtige Dystopie erwiesen, die der Umweltbewegung erheblichen Auftrieb gab. Ebenso kann man die Aussicht auf eine baldige Ölknappheit als kräftigen Anstoß für die Entwicklung alternativer Energien sehen. So prägen auch nicht eingetretene Visionen die Zukunft ihrer Zeit. Andererseits warnt Radkau Zukunftsforscher vor übertriebenen Himmel-Hölle-Szenarien: Wer zu oft "Hilfe, Wölfe" ruft, der läuft Gefahr, dass ihm irgendwann niemand mehr glaubt.
Der häufig gestellte Befund, die Menschen seien heute so pessimistisch wie nie, wird übrigens von den Daten im Buch widerlegt: Das Allensbach-Institut fragt die Deutschen seit 1948, ob sie mit Hoffnung ins nächste Jahr blicken. Das taten im August 2016 zwar nur 36 Prozent - vor zwei Jahren waren es noch 56 Prozent. Doch die Zahl wurde schon häufig unterboten. Am pesssimistischsten waren die Deutschen während des Koreakriegs 1950. Und auch während der Ölkrise 1973, nach dem 11. September 2001 und nach Beginn der Finanzkrise 2008 sah man die Zukunft düsterer. Außerdem scheint es seit 1945 eine Art Angst-Hoffnungs-Spirale in den Zukunftserwartungen zu geben: Nach einer Zeit des Optimismus kam stets zuverlässig ein Einbruch in der Stimmung - und umgekehrt. Geht es also bald wieder bergauf?
Radkau selbst stellt indes keinerlei eigene Zukunftsprognosen an - mit gutem Grund. Letztlich kann man sein Buch auch als Mahnung lesen, die Prophezeiungen heutiger Futurologen, die allzu sicher zu wissen scheinen, wohin sich die Welt entwickeln wird, mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. "Die Geschichte der Prognosen", sagt Radkau, "ist eine Geschichte der Überraschungen und der Überrumpelungseffekte. Das wird vermutlich auch für heutige Prognosen gelten."