Zum Tode von Adam Zagajewski:Eine unsterbliche Seele

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Alle Preise hat er bekommen, nur den Nobelpreis nicht: Adam Zagajewski. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Adam Zagajewski war Dissident, Exilant, Denker und immer ein großer Europäer. Jetzt ist der Dichter in Krakau gestorben. Ein Nachruf.

Von Lothar Müller

Risse, Verschiebungen, Abschiede waren ihm in die Wiege gelegt. Als Adam Zagajewski im Juni 1945 in Lwów (Lemberg) geboren wurde, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gehörte die Stadt noch offiziell zu Polen. Wenig später war sie von der Sowjetunion annektiert, und die Familie zog nach Gliwice, in das ehemals preußische Gleiwitz, das die Nationalsozialisten zum Ausgangspunkt des Überfalls auf Polen gemacht hatten.

In einem Essay über den großen polnischen Dichter und Intellektuellen Czesław Miłosz hat er, im Kontrast zu der litauischen Welt mit Wasserschlangen und Gutshäusern, in der Miłosz aufwuchs, über Gliwice geschrieben: "Ich bin in einer ehemaligen deutschen Stadt aufgewachsen; fast alles in der Welt meiner Kindheit sah deutsch aus und roch auch so. Der Kohl schien deutsch zu sein, die Bäume und Mauern erinnerten an Bismarck, die Drosseln sangen mit teutonischem Akzent. Meine Schule hätte in jedem Berliner Vorort stehen können; der preußische Backsteinbau war rot wie die Lippen der Wagner-Sänger."

Es war aber doch das realsozialistische Polen, in das er hineinwuchs. Als er selber längst schon ein großer polnischer Dichter war und Günter Grass 1999 den Nobelpreis erhielt, hat er berichtet, wie er sich in jungen Jahren durch die Wortfluten der "Blechtrommel" im deutschen Original gekämpft hat. Mit 18 Jahren kam er aus der oberschlesischen Bergbauregion nach Krakau, die Stadt mit einer großen Universität und dem großen Marktplatz. Krakau wurde zu einem großen Tor, in die intellektuelle Welt, einmal hat er beschrieben, wie er sich mit einer Sondergenehmigung in der Jagellonischen Bibliothek durch verbotene Literatur las, darunter Miłosz.

Die Lyrik und der Essay waren die Brennpunkte seines Werks

Sonntagsreden über Europa stießen bei ihm auf taube Ohren. Sein Essay "Unser Europa" (2011) war die skeptische Bilanz eines Europäers mit Exilerfahrung. Als junger Mann hatte Zagajewski im Kreise von Generationsgefährten gegen den realen Sozialismus aufbegehrt, im Rahmen der Bewegung "Nowa Fala" sozialkritische und politische Gedichte geschrieben.

Sein Engagement in der Bürgerbewegung führte zu Publikationsverboten, nach Verhängung des Kriegsrechts verließ er Polen im Jahr 1982, ging über Westberlin und die USA nach Paris. Sein Essay "Zwei Städte" ist eine Reflexion über Einheimische, Emigranten und Unbehauste. Für zwei Jahrzehnte war er Teil des internationalen polnischen Exils im zwanzigsten Jahrhundert nach 1945, lehrte an amerikanischen Universitäten, kehrte erst 2002 nach Krakau zurück.

Er hat die Werke von Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Wisława Szymborska in sich aufgenommen, verkehrte mit ihnen und mit Joseph Brodsky, die unverkennbare Rückbindung an die Erfahrungswelt der osteuropäischen Intellektuellen prägte seine Essays und Gedichte, etwa die Zeilen über das Leben der Intelligenz "in der bescheidenen Wohnstatt des Schädels" im Gedicht "Kierkegaard über Hegel": "wir müssen uns vorerst mit der / engen Gefängniszelle begnügen, mit dem Lied des Häftlings, / der guten Laune des Zöllners, der Faust des Polizisten./ Wir wohnen im Heimweh. In Träumen öffnen sich / Schlösser und Riegel."

Die Lyrik und der Essay waren die Brennpunkte seines Werks, der Titel des Gedichtbandes "Asymmetrie" (2017) programmatisch, wie sein Vorgänger "Unsichtbare Hand" (2015). Dinge, Konstellationen in dem Moment, in dem sie die Balance verlieren, interessierten ihn, Sprachbilder, die zu Gemeinplätzen geworden waren, eroberte er für die Poesie zurück.

Über die politischen Gedichte hat Czesław Miłosz einst einen herben Verriss geschrieben

Zwischen die beiden Pole Essay und Lyrik ist ein Buch gespannt, das zu seinen schönsten gehört: "Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum" (2014). Wer es aufschlägt, stößt auf einen vielversprechenden ersten Satz: "Alles werde ich sowieso nicht erzählen." Dann folgt, auf über dreihundert Seiten, ein hinreißendes Selbstporträt, das im Schreiben über andere entsteht, in der Erinnerung an Lektüren, Begegnungen mit Autoren, Reflexionen über den Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Universitäten, Entdeckungen von Wahlverwandten, über den kranken Vater, den Ingenieur, und die Mutter, die auch durch seine späten Gedichte geistern.

Über die politischen Gedichte des jungen Zagajewski und seiner Freunde hatte Czesław Miłosz aus dem amerikanischen Exil einen herben Verriss geschrieben und "metaphysische Distanz" als Vorbedingung besserer Poesie verlangt. Die Philippika hat gewirkt, aber Zagajewski nicht in die Arme der Metaphysik getrieben. Er hielt es eher mit der profanen Mystik, mit der Suche nach plötzlich aufblitzenden Epiphanien in irgendeinem Detail des Alltags, etwa dem Quietschen einer Straßenbahn. "Die Blätter der Pappeln zittern. / Nur der Wind ist reglos."

Adam Zagajewski hat viele Preise erhalten, nur den Nobelpreis nicht. Seit 2015 war er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Ein Freund der gegenwärtigen polnischen Regierung war er nicht, sie hat ihn zu seinen Anfängen zurückgeführt. Anfang 2016, in dem Jahr, in dem ihn der Brexit schockierte, hat er ein satirisches Gedicht gegen die polnische Regierung geschrieben, auf Demonstrationen, begegnete er in den vergangenen Jahren den alt gewordenen Mitstreitern seiner Jugend.

Einmal hat er berichtet, wie ihm beim Warten auf einen Anschlussflug nach Krakau beim Aus-der Hand-Legen eines Buches eine seltsame Einsicht ereilte: "Ich spürte: Ich habe eine unsterbliche Seele. Und meine Melancholie verflog." Am Sonntag ist Adam Zagajewski, der ein großer polnischer Dichter und ein großer Europäer war, im Alter von 75 Jahren in Krakau gestorben.

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