Heinrich-Mann-Preis:Das Gedicht geht nicht ins Kloster

In seinem "Tagebuch ohne Datum" zeigt sich Adam Zagajewski als Pathetiker der Distanz.

Von Volker Breidecker

Sie heißen "Mauersegler", weil sie im stürmisch-bewegten, wendigen Wechsel von raschem Flügelschlag und stürzendem Gleitflug die luftigen Höhen alter Gemäuer, von Kirchen oder Burgen, von Fabriken oder Bahnhöfen aufsuchen. In Hohlräumen unter den Dächern verrichten sie ihre Brut, wohingegen sie sich sonst unermüdlich in den Lüften aufhalten: Auf Dauer unbehaust und unfähig zur Bodenberührung, kennen sie, begleitet von den hohen, schrillen Tönen ihrer Pfiffe, "nur eines - den Flug, / nur das ewige, himmelhohe Segeln, / und brauchen einen Beobachter, der ein wenig nüchtern / und ein wenig verrückt sein sollte . . . "

Es muss sich um einen Künstler, einen Dichter handeln, dem der unentwegte Auftrieb der Mauersegler "ein Bild der Ekstase", des begeisterten Aufschwungs und der Exaltation liefert.

Der 1945 in Lemberg Geborene rollt beharrlich die eigene Familiengeschichte auf

Ein solcher, mit "Auge und Herz" ausgestatteter Beobachter ist das lyrische Ich des Poems "Mauersegler stürmen die St.-Katharinenkirche" aus dem Zyklus "Unsichtbare Hand" (2012) des polnischen Dichters und Essayisten Adam Zagajewski. Die Katharinenkirche von Krakau ist ein im 14. Jahrhundert errichteter gotischer Bau, der aufgrund von Erdstößen, Feuersbrünsten und anderen Katastrophen unvollendet geblieben ist.

Autor und Schriftsteller Adam Zagajewski

Adam Zagajewski studierte Psychologie und Philosophie in Krakau, wo er heute lebt. An der University of Chicago unterrichtet er Literatur.

(Foto: Oliver Killig)

Nach Krakau, in die Stadt seiner Jugend- und Studienjahre, ist der 1945 im ostgalizischen Lemberg geborene Autor nach Jahren des Exils seit 2002 zurückgekehrt. Bei einem Abendspaziergang, vorbei an einem der ältesten Gotteshäuser der Stadt, der Markuskirche, hält er selbst inne, um dem Flug der Mauersegler zu folgen, bis sich deren Antriebe auf ihn übertragen: "Ich übernehme für einen Moment die Perspektive der Mauersegler, die durch die langsam dunkler werdende Luft schwirren, ich schaue nach oben, nicht auf die Passanten, ich bewundere die Gewandtheit dieser launisch in alle Himmelsrichtungen schießenden schwarzen Pfeile (. . . ), die wie Artisten aus dem besten Zirkus Europas in riskanten Loopings durch die engen Gassen des alten Krakau fliegen und dann, wenn die Dämmerung ihre lange geduldige Arbeit getan hat, in der Dunkelheit verschwinden, als hätten sie sich aufgelöst."

Diese Sätze finden sich in einer Prosaminiatur des in der "Edition Akzente" unter dem deutschen Titel "Die kleine Ewigkeit der Kunst" erschienenen "Tagebuch(s) ohne Datum". Die Gegenüberstellung von Poesie und Prosa lässt ahnen, wie nahe beide Gattungen hier nebeneinanderliegen und wie dicht die versammelten Texte gewirkt sind - mit dichterischen Mitteln eben. Es sind fortlaufende Betrachtungen, Beobachtungen, Erinnerungen, Porträts, Reiseberichte eines polyglotten Europäers, Reflexionen über die Kunst, das Leben und beider Beziehungen, teilweise in Form kurzer Essays und Mikroerzählungen, die stellenweise wieder aufgenommen und weitergestrickt oder zu Epigrammen verkürzt werden.

Heinrich-Mann-Preis: Adam Zagajewski: Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum. Hanser Verlag, München 2014. 320 Seiten, 21,90 Euro.

Adam Zagajewski: Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum. Hanser Verlag, München 2014. 320 Seiten, 21,90 Euro.

Als Buch der Erinnerungen ist es zugleich ein mit freilich großer Diskretion verfasstes Buch der Freunde, sowohl lebender als auch verstorbener wie Joseph Brodsky und Czesław Miłosz. Als Selbstporträt rollt es in beharrlicher Spurenlese die eigene Familiengeschichte auf, und als "Tagebuch ohne Datum" hintertreibt es den gleichförmigen Fluss der chronologischen Zeit.

Für die Augen und Ohren von Deutschen, die bei dem Stichwort "Vertreibung" nur an sich selbst oder die eigenen Landsleute denken, weil ihre mittelosteuropäische Landkarten und Geschichtsbilder noch immer voll blinder Flecken sind, ist diese Geschichte besonders lehrreich: Sie führt zurück in die galizische Vielvölkermetropole Lemberg, die seit 1991 ukrainisch ist, zuvor sowjetisch, davor deutsch und davor schon einmal sowjetisch besetzt war, aber neben der österreichisch-habsburgischen auch über eine polnische Vergangenheit verfügte, zuletzt in der Zwischenkriegszeit und, viel weiter zurück, vor der Liquidation und Aufteilung der aus dem einstigen polnisch-litauischen Großreich hervorgegangenen Adelsrepublik. Neben Joseph Roth, der im nahen Brody aufwuchs und in Lemberg studierte, war die Stadt die zumindest zeitweilige Heimat polnischer Schriftsteller wie Stanisław Lem, Bruno Schulz, Zbigniew Herbert und vieler anderer - sowie von Adam Zagajewski, der im Herbst 1945, nur wenige Monate nach seiner Geburt, mit seiner Familie und mit allen dort lebenden Polen gewaltsam deportiert wurde. Danach und infolge der vorausgegangenen Ermordung der Lemberger Juden hatte die Stadt drei Viertel ihrer Bewohner verloren.

"Erst der Verlust berührt uns tief im Inneren, Kontinuitäten nehmen wir nicht wahr."

Wie auf einem großen Verschiebebahnhof rollten in dieser Region weiter die Deportationszüge: Aus Galizien vertriebene Polen gelangten in Viehwaggons nach Schlesien, wo sie fremde Häuser in Straßen mit fremd klingenden Namen bezogen, deren bis dahin deutschstämmige Bewohner ihrerseits nach Westen vertrieben wurden. Die Trauer über den Verlust der gelobten, aber versehrten und "verstümmelten Stadt" - "mich schmerzt das, was ich dort nicht erlebe" -, lastet auch auf dem Nachfahren, der abgeschnitten ist von einer Stadt der wunderbaren Dinge und verborgenen Mysterien, deren nur noch in der zum "zusätzlichen Sinn" erweiterten Vorstellungskraft, im Traum, in Poesie, in Kunst habhaft zu werden ist. Äußerst subtil erhebt Zagajewski die lebensgeschichtliche Erfahrung des irreparablen Verlusts in den Stand eines poetischen Urerlebnisses, macht es zum Initium wie Signum der Dichtkunst: "Stabilität" hingegen hat "keinen poetischen Wert. Erst der Verlust berührt uns tief im Inneren, Kontinuitäten nehmen wir nicht wahr."

Adam Zagajewski: "Die kleine Ewigkeit der Kunst"

Eine Leseprobe bietet der Verlag hier an.

Aus dieser lebensgeschichtlichen Erkenntnis von Unbehaustheit erwächst der Blick auf den Flug der Mauersegler, oder wie es in dem mit "Wolke" betitelten Gedicht kategorisch heißt: "Die Dichter bauen ein Haus für uns - doch sie selbst / können nicht darin wohnen". Zagajewski formuliert darüber eine ganze Poetik des Epiphanischen, also der gesegneten, aber einmaligen und unwiederholbaren "Augenblicke des Glücks" als Quellen neuer Erkenntnisse. Der bis ins vorreligiös Mystische gesteigerte Enthusiasmus gegenüber allen intensiven Momenten der Kontemplation enthält den Schlüssel zur Kunst und zum Kunstwerk. Die Modelle entnimmt Zagajewski vorzugsweise der Musik: Gustav Mahler steht Pate für die "Vereinigung des Unvereinbaren, in tiefster Trauer und ekstatischer Freude, fast ohne sich in den Übergängen zwischen beiden aufzuhalten".

Statt jedoch in reine Mystik und Irrationalität oder gar in hohles Pathos abzugleiten, gelingt es Zagajewski die doppelten Register und schier unvereinbaren Gegensätze in äußerster gegenseitiger Anspannung zu halten: Auch wenn die Dichtung den "Autobus des Alltäglichen" zum Anhalten bringt, bleibt der Unterschied zur Religion - und damit auch zur Kunstfrömmigkeit - erhalten, insofern "das Gedicht in einem bestimmten Augenblick stehen bleibt, es unterdrückt seine Exaltiertheit, es geht nicht ins Kloster". Es bleibt mitten in der Welt, als etwas, das sich ereignet, als etwas Neues und Unerhörtes, das sich auftut, und sei es als "Überschuss an Ton", der freilich "das Herz der Dichtkunst" ist.

In diesem Reich ist kein System, kein Programm und auch kein Kunstpriestertum zugelassen. Was bleibt: "Es gibt nichts anderes, nur konkrete Menschen und konkrete Dinge, Pappeln und Buchen, Holundersträucher und den Geist, der sie betrachtet, und die Trauer darüber, dass alles zu Ende geht. Menschen, Männer und Frauen, jeder und jede, in ihrem Leben gefangen; wir sehen sie nur einen Augenblick, auf der Straße, auf dem Heimweg, wenn sie nach Hause gehen, eilig, fast laufend." Oder im Vorbeiflug, wie die Mauersegler. Oder wie auf dem italienischen Durchgangsbahnhof Rovigo in dem gleichnamigen Gedicht von Zbigniew Herbert: ". . . nichts nur der Bahnhof - arrivi - partenze". - An diesem Freitag verleiht die Akademie der Künste in Berlin an Adam Zagajewski den Heinrich-Mann-Preis 2015.

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