Emmanuel Carrères Buch "Yoga" auf Amazon:"Wir sind elend, sehr elend"

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Indische Soldaten machen Yoga auf einem Flugzeugträger. (Foto: PUNIT PARANJPE/AFP)

Echte Literatur oder Ratgeber? Die künstliche Intelligenz des Onlinehändlers ist sich bei Emmanuel Carrères Buch "Yoga" nicht ganz sicher.

Von Gerhard Matzig

Ein Mensch ist kein herabschauender Hund. Das weiß man in aller Demut, wenn man gerade die erste Yoga-Stunde seines Lebens hinter sich gebracht hat und weiter nach dem wahren Selbst sucht, während man sich fragt, wie man in nur 58 Jahren zu einer wahren Ruine statt zu einem wahren Selbst werden konnte. Einatmen, ausatmen - und dabei nicht umfallen: Nichts ist schwerer als das.

Zum Glück gibt es Ratgeber. Über dies und das, über Lebensführung, Glück, Wellness und natürlich auch über Yoga. Wobei auf der Amazon-Liste "unserer beliebtesten Produkte, basierend auf Bestellungen" der "Bestseller Nr.1 in Ratgeber Yoga" doch arg verblüfft. Nicht weil das Buch, es heißt zufälligerweise oder auch nicht zufälligerweise (aber zur Intelligenz der Amazon-KI kommen wir noch) "Yoga", kein wunderbares Buch wäre. Sondern weil es kein wunderbarer Ratgeber über Yoga ist. Obwohl der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère mit seiner Schrift ursprünglich "ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga" im Sinn hatte: Entstanden ist letztlich ein autofiktionaler Roman, der mehr mit einer bipolaren Störung, psychischen Abgründen und den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo sowie der Verkommenheit der Welt zu tun hat - als mit der Kunst des Ein- und Ausatmens.

Am Ende hat die KI von Amazon natürlich recht: Es geht um Einsichten

Carrères neuer Roman wird infolgedessen an diesem Wochenende in Berlin nicht bei Spirit Yoga in Charlottenburg oder in der Yogibar Friedrichshain vorgestellt, sondern im Literarischen Colloquium am Wannsee. Der Ratgeber ist kein Ratgeber, auch keine Ratgeberliteratur. Sondern reine Literatur. Poesie bisweilen. Auch wenn der Yogalehrer in "Yoga" völlig richtig feststellt: "Wir sind elend, sehr elend, wir sind zum Leben verurteilt." Es ist das Leben selbst, und zwar das Leben des Erzählers, um das es geht. Das wahre Selbst, Ziel und Ende aller Yoga-Praxis, markiert hier nur den Anfang einer Rahmenhandlung, die in einem Yoga-Seminar auf dem Land, zwei Autostunden südlich von Paris, angesiedelt ist. Netterweise heißt das Kapitel "Nordkorea", passend womöglich zum Vipassana-Yoga. Das ist eine Einsichtsmeditation, wobei manche Einsicht erst mal an den Abgrund führt. Sozusagen nach Nordkorea.

Am Ende hat die KI von Amazon natürlich recht: Es geht um Einsichten. Im Yoga und in "Yoga", dem Buch. Trotzdem ist es drollig, wenn die literarische Selbsterforschung als Abenteuerreise nach innen nun die Bestsellerliste der Yoga-Ratgeber anführt. Gefolgt von "30 Kinderyoga-Bildkarten", "55 Achtsamkeitsimpulse für dich", "7 Wochen 7 Chakren" und "Yoga für Ungelenkige". Einatmen, ausatmen - und ein gutes Buch lesen. Das führt auch zu der einen oder anderen Einsicht. Sogar für Ungelenkige.

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