Als "Befana" verkleidete Männer auf dem Canale Grande in Venedig während der "Regata delle Befane" (Hexenrennen).
(Foto: REUTERS)Zu Beginn der Geschichte verschwinden zwei heiß geliebte Puppen. Sie werden von einem Keller verschlungen, in den zuerst Lila die Puppe von Lenù und dann Lenù die Puppe von Lila hinabstößt. Die Botschaft dieser Szene ist nicht misszuverstehen: Die noch nicht schulreifen Spielmütter stoßen ihre Spielkinder ab, um sich fortan einander zuzuwenden - sie werden sich gegenseitig zu Müttern.
Der Keller ist ein dunkles Loch, "in dem uns etwas zu erwarten schien, das vor uns da war, aber immer auf uns gewartet hatte". Er ist ein Eingang zur Unterwelt, und in den Katakomben verbirgt sich nicht nur der Anfang der Freundschaft, sondern auch der Grund des Erzählens. "Ich liebe diese geheimnisvollen Bücher, sowohl alte als auch neue", erklärte Elena Ferrante zu Beginn ihrer Laufbahn als Schriftstellerin in einem Brief an ihre Verlegerin, "die keinen bestimmten Autor haben, aber selbst ein intensives Leben führen. Sie scheinen mir eine Art nächtliches Wunder zu sein, wie die Geschenke der Befana, auf die ich als Kind wartete."
Die Befana ist eine Hexe, die italienischen Kindern in der Nacht des Dreikönigsfestes Geschenke bringt - und der anonyme Autor ist die Gestalt des namenlosen Sammlers von Erfahrungen, dessen Ideal Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Der Erzähler" von 1936 entwirft.
Aber von welchen "geheimnisvollen Büchern" soll hier die Rede sein? Es gibt kaum solche Bücher, und es gibt sie mit Sicherheit nicht in modernen Zeiten. So, wie der Roman weder ein "nächtliches Wunder" ist noch mit "dem Erzählen" zusammenfällt, sondern ein spätes, hochreflektiertes Produkt der Literaturgeschichte darstellt, so blieben die Autoren der großen Romane nicht anonym.
Im Gegenteil, von Honoré de Balzac bis Thomas Mann - sie alle legten Wert darauf, als Schöpfer ihrer Werke erkannt und behandelt zu werden, und das gilt letztlich auch für Charlotte Brontë. Von Elena Ferrante aber soll man nicht wissen, wer sie ist. Es wird sogar kolportiert, es gäbe sie gar nicht.
Die eine Schriftstellerin, die ihren richtigen Namen niemals preisgibt, ist ausgezeichnet vor allen anderen
Anstelle von Anonymität erzeugt dieses Pseudonym - und dessen strikte Wahrung - etwas anderes, als "Elena Ferrante" behauptet: nämlich äußerste Kenntlichkeit. Namen haben alle lebenden Autoren, Pseudonyme werden über kurz oder lang gelüftet. Die eine Schriftstellerin aber, die ihren richtigen Namen niemals preisgibt, ist ausgezeichnet vor allen anderen. Und es steht zu vermuten, dass Elena Ferrante weiß, was sie tut.
Auf den ersten Seiten der Rahmenerzählung berichtet die alt gewordene Lenù, sie sei von Lilas Sohn angerufen worden. Seine Mutter sei verschwunden, und mit ihr alle Gegenstände, die ihre historische Existenz hätten belegen können.
Aus den Fotografien, die sie zeigten, habe sie ihren Kopf herausgeschnitten. Nicht nur künden diese Löcher augenfälliger als alles bedruckte Papier von der Existenz der Verschwundenen - es wird behauptet, Lila sei in den Urgrund ihrer Stadt zurückgesunken wie einst ihre Puppe. Kann man deutlicher darauf hinweisen, dass man es im Folgenden mit einem Konstrukt (und zwar mit einem ziemlich abenteuerlichen) zu tun hat?
Beinahe unendliche Ausbreitung des Gewöhnlichen
Doch nicht nur die Berichterstattung über die Autorin, sondern auch die Romane handeln vom Unkenntlichwerden: vom kompletten Verschwinden einer ganzen Person - und vom partialen Verschwinden, das sich ereignet, wenn ein außerordentlicher Mensch im Unscheinbaren aufgeht.
Ein Universum des Alltäglichen umgibt die Erzählerin und ihre Gefährtin. Und je mehr Aufmerksamkeit dem Gewöhnlichen zuteil wird, je anschaulicher der verbeulte Kochtopf an der Wand blinkt, je drastischer die heranwachsenden Burschen von einer weiblichen Brust gelockt und erschreckt werden, je gründlicher das Gebäck aus der Bar Solara vertilgt wird, desto gewisser ist: Die beinahe unendliche Ausbreitung des Gewöhnlichen erfüllt hier eine doppelte Aufgabe. Sie lässt nicht nur das Ungewöhnliche in sich verschwinden. Sie hebt zugleich das Gewöhnliche heraus.