Serie "Welt im Fieber": Brasilien:Messias, aber ohne Wunder

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Begräbnis in São Paulo: Da aktuell jeder Infizierte im Schnitt 2,8 weitere Brasilianer mit Covid-19 ansteckt, steigt auch die Zahl der Toten an. (Foto: John Wessels/AFP)

Präsident Bolsonaro scheint der drohende Kollaps des Gesundheitssystems nicht zu bekümmern - erscheint deswegen alles, was gerade passiert, wie düstere Stand-Up-Comedy?

Gastbeitrag von Katherine Funke

Wir beklagen inzwischen mehr Tote durch Covid-19 als China. Bald werden wir auch Deutschland überholen. Unseren Präsidenten, Jair Messias Bolsonaro, scheint der aufziehende Kollaps des Gesundheitssystems nicht zu erschrecken. Er sagt: "Na und? Ich bedauere es. Was wollt ihr mehr? Ich bin Messias, aber ich vollbringe keine Wunder." Manchmal erscheint all das wie eine düstere Stand-Up-Comedy. Der Komiker weiß schon, dass seine Witze schlecht sind, bleibt aber trotzdem auf der Bühne.

Brasilien ist gigantisch groß. Und ich, klein. Ein winziger Punkt auf der Landkarte. Aber ich habe eine ganze Welt an Dingen zu sagen. Diese Woche habe ich fünf neue Geschichten für Kinder geschrieben, damit mein Sohn besser schläft, außerdem den Text für einen neuen Song. Ich habe mich im Komponieren geübt. Die Einladung von guten Freunden, zuhause Video-Clips, Songs und Hintergrundgesang aufzunehmen, lassen mich die Pandemie für einige Augenblicke vergessen.

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Und dann mache ich mir wieder Gedanken, mein Hals schnürt sich zu und ich kann nicht mehr singen. Oder schlafen. Handel und Industrie sind im Bundesstaat Santa Catarina, wo ich lebe, zu 100 Prozent Produktivität zurückgekehrt. Die Schulen noch nicht. Das bedeutet, dass die Kinder der Arbeiter jetzt vermehrt Kontakt mit anderen Personen haben, die sie betreuen. Eine stressige Situation an einem Punkt, wo jeder verwundbar ist. Zugleich gibt es immer mehr Meldungen über Korruption beim Kauf von Beatmungsgeräten, die nie in den Kliniken ankommen.

Derzeit steckt jeder Infizierte im Schnitt 2,8 weitere Brasilianer an

Unglaublich traurige Nachrichten zeigen die Konsequenzen, wenn Leute sich nicht an die Maßnahmen halten. Wie etwa der Tod einer 25-jährigen Frau. Sie arbeitete in einem Supermarkt im benachbarten Bundesstaat Paraná und wurde von einer verirrten Kugel durch einen Sicherheitsbeamten getötet. Es war zum Streit mit einem Kunden gekommen, der ohne Maske das Geschäft betreten wollte.

Um einen Ausgleich zu all diesen Nachrichten zu finden, unterstütze ich Projekte, die Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Mein Song "Er denkt, er sei immun" soll helfen, das Projekt "Delivery Solidário" bekannt zu machen. Außerdem unterstütze ich die Kampagne "Mehr als nur Applaus", eine Initiative, die den Nationalkongress bewegen will, wichtige Gesetze zu verabschieden, um die Menschen in Gesundheitsberufen besser zu schützen. Jeden Tag denke ich an meinen Bruder und meine Schwägerin, die beide Ärzte sind. Sie betreuen Covid-19-Patienten in Curitíba. Hoffentlich bleiben sie gesund.

Ich bin erleichtert, dass die Cafés und Bars, die ich normalerweise besuche, noch nicht wieder geöffnet haben. Auch wenn sie es könnten, bieten sie nur Essen und Getränke to go an. Ich bin Stolz auf diese Community, die sich den Gefahr bewusst ist, die eine Unterbrechung der sozialen Distanzierung mit sich bringt.

Derzeit steckt jeder Infizierte im Schnitt 2,8 weitere Brasilianer an (nach Einschätzung des Imperial College London). Dadurch kollabierte schon das Gesundheitssystem in Manaus und in Rio de Janeiro. Wie viele Freunde werden wir durch Covid-19 verlieren? Bisher ist es zum Glück in meinem Freundeskreis noch nicht dazu gekommen. Aber eine Kollegin hat drei Freunde innerhalb weniger Tage verloren. Ein Freund verlor seinen Cousin. Ein anderer seinen Lehrer.

Im Gegensatz zu Brasilien kontrollieren Argentinien, Paraguay und Venezuela den Ausbruch in vorbildlicher Weise. Argentiniens Präsident, Alberto Fernández, erschien sogar mit einer Gitarre in der Hand im Fernsehen, um den argentinischen Familien, die unter der Pandemie leiden, ein wenig Inspiration zu geben. So nah! Und zugleich so fern von uns - als wäre es ein Traum oder ein anderer Fernsehkanal, den wir einschalten könnten, wenn wir der desaströsen Stand-up-Comedy überdrüssig sind. Uns bleibt nichts, als auf ein Wunder zu hoffen.

Katherine Funke, geboren 1981 im brasilianischen Joinville, ist Autorin und Gründerin des Verlags "Micronotas". A. d. Portugiesischen v. Michaela Metz.

© SZ vom 04.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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