Walid Raad in der Kunsthalle Mainz:Was Sie schon immer über Krieg wissen wollten

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Gab es in Stuttgart ein Depot, das die Motoren aufbewahrte, die von den Autobombenanschlägen in Beirut übrig geblieben sind? (Foto: Norbert Miguletz/Kunsthalle Mainz)

Der libanesische Künstler Walid Raad erfindet in seinen Werken beinahe wahre historische Fakten über Militär, Kunst und Politik.

Von Till Briegleb

War der Codename des libanesischen Geheimdiensts für Angela Merkel wirklich "Violetter Hornmohn"? Und für Gerhard Schröder "Taubenkraut"? Gibt es Wasserfälle im Libanon, die von den Bürgerkriegsparteien der Siebziger- und Achtzigerjahre nach den Staatschefs jener Länder benannt wurden, von denen die Milizen ihre wechselnde Unterstützung bezogen? Und existierte tatsächlich bis 2012 ein Depot in der Autobauerstadt Stuttgart, das die Motoren aufbewahrte, die von den Autobombenanschlägen in Beirut übrig geblieben sind? Nun: Völlig unmöglich ist es nicht - zumindest wenn man dem Künstler Walid Raad glaubt. Was tückisch sein kann.

Raad ist nämlich ein fiktionaler Historiker. Er erzählt die Geschichte von Gewalt und Katastrophen im Nahen Osten mit Fakten, die er sich ausgedacht hat. Allerdings nie vollständig, sondern genau so weit, dass der Zweifel über ihre Glaubwürdigkeit ohne zusätzliche Informationen unentschieden bleiben muss.

Seit der Libanese konstruiert solche historischen Grauzonen, seit er 2002 auf der documenta 11 aufgetreten ist - damals mit seiner imaginären Stiftung "The Atlas Group", deren Ziel es war, die vermeintlich objektiven Geschichtswissenschaften und ihre Erzählungen über den Krieg, in dem Walid Raad aufgewachsen ist, zu hinterfragen. Er erklärt das in seiner großen Ausstellung in der Kunsthalle Mainz in dem von ihm eingesprochenen Audio-Guide so: "Fiktion ist nicht das Gegenteil von Geschichte. Es ist der Ort, um spezielle Erfahrungen auszudrücken." Und dazu zählt bei Raad eben unter anderem das überwältigende Gefühl der Absurdität von Gewalt und ihren Zielen.

Selbst die Tiere zeigen in Walid Raads "Dokumentationen" ein patriotisches Kunstempfinden

In seinem neuen Werkkomplex mit dem Titel "I long to meet the masses" (Ich sehne mich danach, den Massen zu begegnen) beschäftigt er sich deshalb etwa mit Denkmälern, deren eingefrorene Herrschaftsposen irgendwann wie der Endzweck kriegerischer Politik wirkten. Walid Raads Geschichte dieser männlichen Selbstdarstellung geht nun so: Angeblich wurden die Monumente Beiruts mit dem Beginn des Bürgerkriegs 1975 zerlegt und in unbeschrifteten Kisten versteckt - leider ohne Demontageplan. In einer sachlich klingenden Erzählung beschreibt Raad dann, wie das Puzzle der Rekonstruktion misslingt und eine libanesische Kuratorin in Deutschland schließlich aus den Kisten Collagen neuer Denkmäler schuf. Die sind nun in Mainz ausgestellt.

Mit ähnlich plastischen Novellen nähert Walid Raad sich auch dem Ersten Weltkrieg und dem Befreiungskrieg der Araber gegen das Osmanische Reich. Die Motive der berühmten Iznik-Keramik, die für die Blütezeit des Turk-Imperiums im 17. Jahrhundert stehen, verschwinden also mit dem Untergang des "erhabenen Staats" 1922 auf mysteriöse Weise. Zunächst. Später tauchen sie dann als magisches Echo in der westlichen Kultur wieder auf: an den Wänden des Louvre, auf der Rückseite des letzten Rubensgemäldes in Köln und sogar auf nordamerikanischen Baumblättern, die in einem Museumsdepot im Sudan aufbewahrt wurden - hier ausgefressen von kunstsinnigen Insekten.

"Fiktion ist nicht das Gegenteil von Geschichte": Eine Skulptur von Walid Raads Werkkomplex "I long to meet the masses once again". (Foto: Norbert Miguletz/Kunsthalle Mainz)

Auch andere Tiere in Walid Raads "Dokumentationen" zeigen merkwürdig patriotisches Kunstempfinden. Eine unbekannte teure Sammlung barocker Gefäße in Saudi-Arabien ist für Fliegen, Würmer und Spinnen attraktiv. Jede Gattung wird magisch von jeweils nur einem Krug angezogen, und nur, solange dieser sich im Wahhabiten-Reich befindet.

Mit derartigen Vorstellungen bespielt Raad Museen aber nicht nur. Er denkt sie sich auch aus - und bringt dabei seine poetischen Ideen von globaler Kommunikation ein. Gemeinsam mit dem bekannten libanesischen Architekten Bernard Khoury hatte Raad 2016 am Wettbewerb für ein nationales Kunstmuseum in Beirut teilgenommen, mit einem Entwurf, der aus zwei Komponenten besteht: einem sehr tiefen Loch für eine provisorische Ausstellungsfläche, die der Einsicht folgt, dass die Zeit noch nicht reif sei für einen musealen Kanon libanesischer Kunst; sowie einem imaginären Tunnelsystem, das erfundene Orte in aller Welt verbindet, etwa eine "Residenz für das Recht auf Rückkehr", ein "Auktionshaus der Träume" und die "Biennale für abwechslungsreiche Perspektive".

Wahr oder erfunden? Ohne Recherche für Besucherinnen und Besucher kaum zu beantworten

Mit diesem Vorschlag konnten Raad und Khoury natürlich keinen Bauauftrag erringen. Aber nachdem das Projekt durch die desaströsen Korruptions- und Staatskrisen Libanons beim Stand einer tiefen Baugrube gestoppt werden musste, rechnet Raad sich realistische Chancen aus, in dem Loch die Idee seines Kunstmuseums doch noch realisieren zu können - als eine Institution, die eher inspirierende Fragen stellt, als Kriterien für nationale Kunstwerke zu formulieren. Wahr oder erfunden? Ohne Nachrecherche für Besucherinnen und Besucher kaum zu beantworten.

Walid Raads Strategie gegenüber schematischer Geschichtsschreibung will genau diese Verunsicherung. Die Deutungshoheit, die vor allem autokratische Systeme über die Vergangenheit beanspruchen, um damit weitere autoritäre Handlungen bis hin zu Gewalt zu rechtfertigen, sind das Angriffsziel für seinen subtilen Spott. Wohin einseitige Interpretationen führen können, erlebt die Welt gerade bei Putins Ukraine-Feldzug. Walid Raads fiktionale Geschichtswissenschaft muss vor solcher Brutalität natürlich auch kapitulieren. Aber seine humorvolle Einladung, Geschichte mehr über Verbindendes denn über Feindseligkeiten zu verstehen, mehr die Absurdität als die Gegensätze in Konfrontationen zu betrachten, bewahrt den Traum von friedlicheren Umgangsformen.

We Lived So Well Together , Kunsthalle Mainz, bis 15. Mai.

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