Eine Kampagne der Wochenzeitung Die Zeit zitierte deren Autor Moritz von Uslar vor vielen Jahren mit einem Satz, den man noch immer so stehen lassen kann. Es sei, sagte von Uslar, "oft eine gute Frage, wenn man sie an der richtigen Stelle stellt, zu sagen: Und sonst so?"
Überhaupt ist das Fragen, mal offen, häufiger suggestiv, eine Großkompetenz von Uslars, es hat ihn so bekannt gemacht, wie man als Journalist eben bekannt werden kann, es lässt Popgrößen, Politiker und andere extrem erfahrene Ausweichtiere nicht selten stutzen, manchmal ist es auch nur auf eine sehr unterhaltsame Art rauflustig, woran sich zum Beispiel der Politiker Rezzo Schlauch erinnern dürfte, dem in einer Fernsehsendung von Benjamin von Stuckrad-Barre einmal die durch von Uslar komponierte Frage gestellt wurde, womit er, Rezzo Schlauch, als Kind häufiger gehänselt worden sei, mit seinem Vor- oder seinem Nachnamen.
Ostdeutschland:"Was geht denn Dich das an?!"
Manja Präkels und David Begrich über die Doktrin des Sich-nicht-Einmischens, über Gewalt, die die Demokratie erschüttert und die Suche nach einer gemeinsamen Sprache.
Und sonst so? Das kann also oft eine gute Frage sein und sie führt auch deswegen die Liste der "großen zehn" Leitfragen an, mit denen Moritz von Uslar für sein Fortsetzungsprojekt "Nochmal Deutschboden" wieder ins brandenburgische Zehdenick gereist ist, um dort erneut nach dem und dieses Mal etwas mehr auch nach den Rechten zu sehen, dazu später mehr.
Das Erscheinen von Teil eins, "Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung", liegt zehn Jahre zurück, die Versuchsanordnung war damals ganz ähnlich wie jetzt. Es geht um das offensive Zulassen gegenseitiger Fremdheit (westdeutscher Großstadt-Reporter in ostdeutscher Kleinstadt) und es geht darum, diese Fremdheit nicht bloß mit jener öden Distanzierungsroutiniertheit auszustellen, die bei Twitter genauso ermüdend gepflegt wird wie zum Beispiel beim "Frauentausch" von RTL II. Es geht darum, die Fremdheit zunächst einmal gut zu finden und dann auf die aus dem Amerikanischen von Gay Talese übernommene Methode des Reporters zu vertrauen, "The fine art of hanging around", also hinfahren, rumhängen, kucken, was passiert oder eben gerade nicht, oft ist das ja noch spannender.
Er versteckt weder seine Schnöselhaftigkeit noch seine Lust auf gerne mehrere Biere
Den ersten Teil, vielleicht kann man das so zusammenfassen, fanden einige Leute aus teilweise nachvollziehbaren Gründen zum Kotzen, viele mehr hielten ihn für ein Ereignis. So ähnlich wird es sich nun wieder schütteln, aber, bisschen schade, es gibt wie bei vielen Sequels eine dritte mögliche Lesart: schon ganz gut, aber lange nicht so aufregend wie beim ersten Mal.
Von Uslar formuliert selbst die Gefahr einer "Fortsetzungshölle", wie er überhaupt allen nötigen Metatext wie gewohnt gleich selbst mit ausliefert, die Besprechung des eigenen Buchs ist fortlaufend Teil desselben. Man kann diese Fortsetzungshölle wieder sehr toll finden, die Anordnung bleibt einfach gut, wenn einer wie von Uslar mit fast allem, was zu ihm gehört, nach Zehdenick fährt und dort kaum etwas versteckt, nicht seine Schnöselhaftigkeit, nicht seine gelegentliche Verachtung, auch nicht seine Lust auf das Trinken von gerne mehreren Bieren. Das alles bleibt sein Angebot und ein langweiliges ist es nicht.
Man kann diese Versuchsanordnung weiterhin schwierig finden, weil von Uslar alles Liebenswerte der Kleinstadthelden mit den Spezialspitznamen erneut isoliert und in ausführlicher Begeisterung skizziert, weil er ihre privaten Widersprüche und weltanschaulichen Feindseligkeiten im Vergleich jedoch immer noch knapp oder auch mal gar nicht behandelt. In Summe adelt solche Aufmerksamkeit weit mehr als dass sie tadelt. Das ist nicht zwingend verwerflich, man sollte sich dessen aber sehr genau bewusst sein.
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"Hier musste also - wie hieß das gleich? Ach ja - recherchiert werden."
Vor dem Hintergrund gerade dieser Lieben-oder-hassen-Ausgangssituation ist der vom Autor selbst formulierte Auftrag, im Ergebnis des erneuten Besuchs müsse ein dezidiert politisches Buch vorliegen, klug gewählt - allerdings kommt "Nochmal Deutschboden" in dieser Frage leider nur bedingt voran. Zuweilen scheitert es sogar wie gleich im zweiten Kapitel, wo der Autor den Verdacht nährt, ihm sei beim Abräumen von guten Posen und guten Geschichten alles Faktische im Zweifel nachrangig. Zwar geht von Uslar auch mit diesem Verdacht später offensiv um ("Hier musste also - wie hieß das gleich? Ach ja - recherchiert werden"), aber das Zu- und Vertrauen in sein Buch schwächt er eben schon auf Seite 22, wo in einer Bestandsaufnahme vom Fußball (aus einem Länderspiel der A-Nationalmannschaft wird eines der U21) über die Körpergröße des brandenburgischen Ministerpräsidenten (zwei Zentimeter daneben) bis zu Herkunft und Zeitpunkt politischer Umfragedaten unglaublich viel durcheinander geht.
Die Haupterkenntnis von Uslars ist jedenfalls die, dass im Vergleich zu vor zehn Jahren der Ton straffer und die Verachtung gegenüber dem beliebig definierten Fremden teilweise furchteinflößend größer geworden ist. Dass der Autor mit diesem Ergebnis im Jahr 2020 ein bisschen late to the party ist, wäre dabei noch gar kein größeres Problem gewesen. Es wird allerdings dadurch eines, dass er für seine Fortsetzung neben der Frage nach im Grundsatz längst bekannten politischen Verhältnissen nicht viel mehr dabei hatte als die eben an der nicht ganz richtigen Stelle gesetzte Frage - und sonst so?
Natürlich macht, so einem der erste Teil zugesagt hatte, ein Wiedersehen mit dem schlagfertigen und unterschiedlich alkoholabhängigen Personal aus Zehdenick große Freude. Aber dieses Wiedersehen ist dem Titel folgend ziemlich exakt ein Noch-mal, weniger ein Noch-mehr, Noch-einmal-anders, Noch-tiefer. Ein privates Interesse beider Seiten, Autor wie Kleinstadt, an einem solchen Wiedersehen nach zehn Jahren erschließt sich sofort - der Gewinn, als unbeteiligter Dritter davon zu lesen, wird unterschiedlich hoch ausfallen.
Doch gibt es ihn schon, diesen Gewinn. Wenn es "Nochmal Deutschboden" auch wie seinem Vorgänger etwas an dramaturgischer Ordnung fehlt und wenn es zudem fast zwangsweise an inhaltlich Neuartigem mangelt, so bleibt die Welt dieser Kleinstadt eine erzählenswerte, umso mehr, wenn Moritz von Uslar von ihr erzählt. Beide Bücher sowie die Verfilmung des ersten beweisen, wie gut äußerlich karge Orte und ihr Alltagsgeschehen mit den Mitteln der Kunst zu begreifen sind.
Die Annahme, alleine die Beschreibung legitimiere das Fehlerhafte, ist falsch
Dabei verliert der Text nie seine Deutschbodenhaftung, das Realgeschehen bildet immer den Kern, was manche Kritik an von Uslars Buch mindestens dem widersinnig erscheinen lässt, der selbst schon mal ein paar Tage in Brandenburg verbracht hat. Dass von Uslar ostdeutschen Alltagsrassismus verschweige, lässt sich auf Grundlage des zweiten Deutschboden-Teils nicht sagen. Sein Entsetzen über das, was man die politischen Verhältnisse nennt, dokumentiert der Autor umfangreich, wenn auch häufig im allgemeinen Sinne und weniger konkret in Bezug auf seine Protagonisten. Den Vorwurf der Autorin Manja Präkels, die von Uslar nach Erscheinen des ersten Teils vorgeworfen hatte, er relativiere die rechtsradikale Vergangenheit dieser Protagonisten, geht von Uslar immerhin nach, ein wenig gibt er ihm sogar nach. Und für die bloße Existenz rechten Denkens kann man den Autor nun nicht verantwortlich machen, wie auch der wolkige Ruf nach mehr Widerspruch aus der Ferne immer arg leicht formuliert ist.
Noch einmal deutlich weniger nachvollziehbar bleiben die beliebten Vorwürfe, Moritz von Uslar erhebe sich über die Menschen in Zehdenick, sein Interesse sei ein eher zoologisches - und er sei, zweitens, ausschließlich fixiert auf Männlichkeitsquatsch, egal wie dumm dessen Ausprägung auch sein mag. Hinter beidem steht nicht selten die falsche Annahme, alle hinter Idealen zurückbleibende Wirklichkeit dürfe in dieser Fehlerhaftigkeit am besten gar nicht erst beschrieben werden, weil schon diese Beschreibung das Fehlerhafte irgendwie legitimiere. Na ja. Mit einer Umdrehung weniger betrachtet, ist "Nochmal Deutschboden" schlicht ein gutes Dokument unserer Zeit. Davon zu lesen, wie in Kleinstadtkneipen wie dem "Scheißladen" oder in der Gaststätte Schröder gesprochen, gesoffen, gepöbelt wird, vermittelt jedenfalls ein genaueres Bild als eine bloße Zahl in der eingefärbten Karte mit den Wahlkreisergebnissen das vermöchte.
Moritz v. Uslar: Nochmal Deutschboden. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 336 Seiten, 22 Euro.